Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor

Nur wenig Neues erfuhren gestern Abend die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der außerordentlichen Mademühlener Ortsbeiratssitung im ehemaligen DGH. Daran änderte auch die Anwesenheit des Hauptamtlichen Kreisbeigeordneten Stefan Aurand (SPD) samt zusätzlicher Kreisverwaltungsmitarbeiter wenig. Das „Aufreger-Thema“, die geplante Einquartierung von rund 50 Schutzsuchende in dem ehemaligen Bürogebäude der Mademühlener Firma Günther, unweit des Mademühlener Kindergartes, hatte fast 100 Menschen aktiviert.

Das ehemalige Bürogebäude der Mademühlener Firma Günther soll schon bald knapp 50 Flüchtlingen eine Heimat bieten.

Ortsvorsteher Sebastian Stahl, von den Mitgliedern des Ortsbeirates unterstützt, begrüßte neben Driedorfs Bürgermeister Carsten Braun (CDU) auch den Leiter der Herborner Polizeistation Markus Schmitt, der eigens erschienen war, um Sicherheits-Fragen aus dem Publikum zum Thema zu beantworten. Derzeit befänden sich rund 6 700 Asylbewerber im Lahn-Dill-Kreis erklärte Aurand und zusätzlich etwa 3600 Flüchtlinge aus der Ukraine. Da die „kreiseigenen Unterkünfte“ überlastet seien, habe man 975 von ihnen auf die Städte und Gemeinden des LDK verteilt. 43 Personen kämen jede Woche im Kreisgebiet, respektive den Ankunftszentren dazu. Diese im Quartalsdurchschnitt vom Land Hessen zugewiesenen 560 Menschen müsse man entsprechend der aktuellen Gesetzeslage unterbringen. 

Volle Hütte im ehemaligen Mademühlener DGH

Driedorf mit seinen Ortsteilen beherberge aktuell 57 Schutzsuchende plus 47 Ukrainer, ergänzte Carsten Braun. Im „Ankunftszentrum“ Heisterberg werden die Neuankömmlinge aufgenommen und bereits nach einer Woche im Kreisgebiet weiterverteilt, erfuhren die Mademühlener.

Der Investor, der erst im Februar dieses Jahres die Gebäude der ehemaligen Firma Günther in Mademühlen kaufte, hatte sie kurz darauf dem Kreis zur Miete angeboten. Der schlug zu und wartet jedoch noch immer auf die Vertragsunterzeichnung. Auch ein Antrag auf Nutzungsänderung vom Fabrik-auf Wohngebäude habe der Eigentümer bisher noch nicht gestellt.

Braun berichtete auch von der Driedorfer Unterkunft im Sonnenweg (dem ehemaligen Altenheim), das derzeit mit 18 Personen belegt sei und noch zahlenmäßig erweitert werden könne.

Da die Gemeinde immer geeignete Unterkünfte für Geflüchtete suche, bat der Bürgermeister die Anwesende um entsprechende Hilfe. Angebote aus Waldaubach hätten sich zerschlagen und was mit dem ehemaligen EAM-Gebäude (Zum alten Sack) in Hohenroth aktuell geplant sei, entziehe sich seiner Kenntnis.

Ein Flyer, der seinerzeit in Driedorf kursierte und die Besorgnis der Kindergarteneltern und der Mademühlener Bevölkerung zum Ausdruck bringen sollte, kam ebenfalls zur Sprache. Da Braun Angaben über die Ersteller darauf vermisste, habe er damals die Polizei eingeschaltet, die wiederum den Staatschutz in Aktion versetzte. Das habe sie menschlich sehr enttäuscht rief eine Zuhörerin Braun zu.

Jupp Riem habe sich als Integrationshelfer der Gemeinde zur Verfügung gestellte und er habe dies Engagement sehr begrüßt, freute sich Braun. Der Wahl-Driedorfer erklärte in einem kurzen Statement in welcher Form er sich um Asylbewerber und Ukraine-Flüchtlingen kümmern wolle.

Peter Klingelhöfer, ehemaliger Polizei-Dienststellenleiter, ist mittlerweile beim Kreis für Sicherheitsfragen zuständig. Er betonte, dass es bisher in den Unterkünften Haiger und Wetzlar zu keinerlei Problemen mit Flüchtlingen gekommen sei. Auch die Nähe der Unterkunft Günther zum Mademühlener Kindergarten sehe er eher als unproblematisch an.

Das bestätigte auch Markus Schmitt. „Ich habe viel Verständnis für die Sorgen und Nöte der Betroffenen Bürgerinnen und Bürger“, sagte er. Auf den Zuruf aus dem Saal „Vergewaltigung“ reagierte er gelassen. Natürlich könne man nicht von vorneherein alles ausschließen. Er legte den Bürgern ans Herz sich im Falle eines Falles vertrauensvoll an die Polizei zu wenden.

Nur wenig erhellendes war zu erfahren. Von links: Carsten Braun, Stephan Aurand, Frau Peter-Lauf, Peter Klingelhöfer und verdeckt Markus Schmitt.

Auf die Durchmischung bei der Unterbringung geflohener Menschen werde großen Wert gelegt, erfuhren die Mademühlener Bürger. Man wolle damit verhindern, dass keine der Familien zu stark werde. Auf die Frage, wann denn die ersten Flüchtlinge in der Unterkunft Günther ankommen werden, erfuhr man, dass dies nicht vor Vertragsunterzeichnung mit dem Eigentümer der Fall sei. Wie es denn um die Sicherheit bei Pöbeleien oder gar Belästigungen bestellt sei, wollte einer der Anwesenden wissen. Klingelhöfer stellte kategorisch fest, dass es dafür bisher keine Anlässe gegeben habe. Auf diese Antwort reagierte ein Großteil der Saal-Anwesenden mit hörbarem Unmut.

Auch der Vorwurf, dass mal ein Kind „abgestochen“ werden könne, sei unbegründet. Diese Antwort war für viele Menschen offensichtlich ebenfalls unbefriedigend. Eine Zuhörerin verschaffte ihrem Herzen lautstark Luft, indem sie die „unerträgliche Hetze“ gegen Flüchtlinge verurteilte.

Keine befriedigende Antwort erhielt ein Pedant auf die Frage, ob denn die Flüchtlinge nach ihrer Ankunft ganz in Mademühlen bleiben würden. Aurand: „Darauf haben wir leider keinen Einfluss.“ Ein anderer Frager wollte von ihm wissen, ob denn überwiegend Familien oder Alleinreisende kommen. Dies sei ganz unterschiedlich und könne von ihm nicht präzise beantwortet werden, so die Antwort des Sozialdezernenten.

Carsten Braun (links) mit Stephan Aurand

Den Einwand eines anderen Fragers, warum der Kreis nicht endlich sage, dass es mit dem ständigen Zustrom an Flüchtlinge genug sei und zur Kenntnis nähme, dass die Menschen die Nase so langsam voll hätten, wurde von großem Beifall begleitet. Aurand antwortete, dass es gesetzliche Vorgaben gäbe, an die man gebunden sei.

Stahl versuchte die Wogen zu glätten, indem er fragte, wer sich den in die Flüchtlingsarbeit einbringen möchte. Jupp Rem wies daraufhin, dass sich schon bald potentielle, ehrenamtliche Helfer in den Räumen der FeG in der Wiesenstraße treffen werden, um dieses Thema eingehend zu besprechen.

Warum werde denn erzählt, dass alles noch offen sei mit der Anmietung des Gebäudes, wollte ein weiterer Fragesteller wissen. Es sei doch erkennbar mit dem Ziel gekauft worden, es dem Kreis als Flüchtlingsunterkunft anzubieten.

Eine junge Frau machte deutlich, dass sie in den Ängsten und Sorgen keinerlei Hetze erkennen könne. Das träfe auch auf den genannten Flyer zu. Sie habe ungute Erlebnisse mit diversen Personen gehabt und wisse somit wovon sie spreche. Einen Generalverdacht erteilte sie aber eine klare Absage. Die Nachrichten und Bildbeiträge in den Medien über Zustände in öffentlichen Badeeinrichtungen sprächen jedoch eine klare Sprache und habe ebenfalls mit Hetze sicher nichts zu tun.

Schmitt sprach daraufhin von subjektiven Sicherheitsgefühlen und bezog sich damit auch auf den Herborner Bahnhofsvorplatz. Da reiche schon der Anblick fremder Gesichter bei manchen Menschen für Unwohlsein. Straftaten gäbe es jedoch nicht und das treffe auch auf Driedorf zu. Er räumte allerdings ein, dass es eine hundertprozentige Sicherheit nicht gebe und natürlich könne man auch „abgestochen“ werden. Auf den Einwand aus dem Saal, dass in Driedorf erst vor kurzem etwas passiert sei, antwortete Aurand, dass er vor Verallgemeinerungen warne. Es passiere außerdem so viel auf der Welt. 

Karl Heinz Bellinghausen stellte in Abrede, dass das Erlernen der Deutschen Sprache ein Garant für Integration sei. Dies hätten die Unruhen, ausgelöst von französisch sprechenden Einwanderern in Paris, gezeigt. Für Deutschland bestehe auch keine Pflicht zur Selbstzerstörung. Die Flüchtlings-Kontingente bestünden zu 70 Prozent aus jungen Männern, die das Dorfleben in Mademühlen drastisch verändern würden. Seine Einlassungen honorierte der größte Teil der Anwesenden mit anhaltendem Klatschen.

Das Bürgerinteresse an der zukünftigen Entwicklung ihres Dorfes war groß

Um die mittlerweile ziemlich aufgeheizte Stimmung ein wenig herunterzubringen, wies ein anderer daraufhin, „dass die Anwesenden die Flüchtlingsproblematik der derzeitigen Bundesregierung nicht lösen würden.“ Er stellte die rhetorische Frage, ob der Brandschutz bei eingehender Prüfung das Objekt Günther vielleicht als ungeeignet einstufen könne und somit eine „klitzekleine Chance“ bestehe, die Belegung zu verhindern.

Eine junge Frau aus Münchhausen betonte, dass sie nach dem letzten Vorfall am Heisterberger Weiher, bei dem ein Asylbewerber angeblich ein junges Mädchen geküsst haben soll, ihre Tochter nicht mehr alleine dorthin zum Baden schicken werde. Auch dieser Beitrag wurde von den Zuhörern mit Beifall honoriert. Sie sagte, dass sie sich durch die jungen Männer gestört fühle und betonte gleichzeitig, dass sie gegen Familien nichts habe.

Die Antwort von Aurand war auch in diesem Fall wenig zufriedenstellend. „Wir erhalten wöchentliche Zuweisungen von Familien oder Einzelreisenden.“

Die Anregung aus den Zuhörerreihen für den Kindergarten einen Sicherheitsdienst zu verpflichten wurde wegen der geringen Aktualität verworfen.

Bürgermeister Carsten Braun sagte in seinem Abschluss-Statement, dass er sehr große Angst vor einer Spaltung des Ortsteils habe. Der Ortsvorsteher hingegen machte noch einmal deutlich, dass es ihm und dem gesamten Ortsbeirat darum ging, mit dieser Info-Veranstaltung den aktuellen Sachstand in Erfahrung zu bringen.

Fazit: Die Mademühlener Ortsbeiratssitzung hinterließ eine Menge offener Fragen, die vermutlich schlussendlich nicht beantwortet werden konnten. Fakt ist, dass trotz mehrerer Beschwichtigungsversuche von Seiten der Offiziellen die Besorgnis der Mademühlener Mütter und Väter geblieben ist. Das Positive an der Veranstaltung war hingegen, dass sich beide Seiten miteinander ausgetauscht haben. sig/Fotos: Gerdau

8 Gedanken zu „Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor

  • 22. Juli 2023 um 11:07 Uhr
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    Hallo Siggi! Dein ausführlicher – und wie immer- sehr guter Artikel zeigt deutlich, wie hilflos wir Bürger dieser Ausländerpolitik ausgeliefert sind.
    Liebe Grüße
    Ulrike

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  • 22. Juli 2023 um 15:15 Uhr
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    na ja, finde das recht gut wiedergegeben. Aber der Punkt ist ja das überhaupt noch kein Vertrag unterschrieben ist. Der Investor wird sich sicherlich überlegen das erhebliche Kosten für Brandschutz usw. erforderlich sind. Ob das besorgte Eltern der Kindergarteneltern waren wage ich zu bezweifeln. Wir können sicher nicht die Flüchtlingsprobleme nicht lösen. Aber das Ende der dörflichen Kultur wie von Herrn Bellinghausen halte ich doch sehr überzogen, zumal sich Herr Bellinghausen sich sowieso nicht an Veranstaltungen in Mademühlen beteiligt. Wer einen Flyer schreibt und den im Dorf verteilen lässt sollte schon mal den A… in der Hose haben und ihn dann auch unterschreiben

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  • 22. Juli 2023 um 17:32 Uhr
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    Ich habe vor ca. 10 Jahren während eines Psychologie Kongresses ein Seminar zu „Kultur und Integration“ bei 2 Psychotherapeutinnen besucht, die in Erstaufnahmelagern Flüchtlinge betreut haben. Ich habe 2 Heilig Abende für Flüchtlinge mitorganisiert incl. vieler Fahrdienste, eine Gruppe Flüchtlinge zur Fackelwanderung begleitet, Menschen nach Hause eingeladen und sehr viel über sie, ihre Vergangenheit, Wünsche, Kultur etc. erfahren. Einen Tag nach der OB Versammlung erreichte mich eine WA eines pakistanischen Flüchtlings, zu dem ich 8 Jahre keinen Kontakt mehr hatte, der sich an uns hier in Mademühlen erinnerte und dafür danken wollte, dass wir ihm und seinen Mitflüchtlingen eine glückliche Zeit beschert haben! Wir alle, wir hier und die, die ankommen sind die Opfer, die Täter sitzen woanders und das „Teile und Herrsche“-Spiel war schon immer sehr erfolgreich um uns beschäftigt zu halten und von den wahren Verursachern abzulenken. Menschen in armen afrikanischen Dörfern kratzen ihr letztes Geld zusammen um die besten Jungs zu schicken, in der Hoffnung, dass sie dann das Dorf unterstützen. Diese werfen das Geld Menschenhändlern in den Rachen, die jederzeit geschnappt werden könnten, wenn das die Absicht der Strippenziehern wäre. Auf dem Weg zu uns werden Menschen mißhandelt, mißbraucht, Kinder abgenommen und weiter verkauft. Die Jungs die es schaffen, müssen lügen um hier anerkannt zu werden, selbst wenn sie eine ehrliche Haut haben, oder sie sind schon oder werden kriminell, weil es ja hier sehr einfach ist, oder weil die Heimatländer froh sind, Kriminelle und psychisch auffällige Menschen abschieben zu können (die Schlepper zu bezahlen ist billiger, als jahrelange Verwahrung in welchen Institutionen auch immer). Außerdem ist es in vielen dieser Länder völlig in Ordnung Jungs zu mißbrauchen, weil nur Mädels als Jungfrau in die Ehe gehen müssen und von daher nicht unbewacht frei rumlaufen und zur Verfügung stehen, es sei denn sie sind unter 3 Jahren, da danach das Beweißstück noch nachwachsen kann. (Und dies ist nur ein kleiner Teil meines Kenntnisstandes!!) Es ist also ein vielfältiges Problem und wir helfen im Moment im Großen und Ganzen nur sehr wenigen Menschen. Wenn wir am „Teile und Herrsche“ Spiel nicht mehr mitmachen wollen, müssten wir für eine Woche die Arbeit nieder legen, nicht mehr tanken, einkaufen etc., da sehe ich bei unseren braven, angepassten Bürger kaum Potential! Ansonsten können wir nur auf ein übernatürliches Eingreifen hoffen!!

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  • 23. Juli 2023 um 16:28 Uhr
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    An diesem besagten Abend wurde 2 Stunden nur über Verbrecher und Vergewaltiger gesprochen.
    Das war für mich schwer zu ertragen und hat mich sehr beschämt.
    In erster Linie ging es um MENSCHEN, die wir noch nicht gesehen, geschweige denn kennen gelernt hätten!
    Mein Menschenbild, als Krankenschwester ist da ein anderes.
    Wir als Deutschland schaffen es noch nicht einmal unsere Kranken und Alten aus eigener Kraft zu pflegen.
    Da braucht es Osteuropa, Vietnam, Thailand, Indien Philippinen, und auch den nahen Osten dafür.
    Für die Arbeit die für „uns“ nicht attraktiv genug ist, sind die Asylanten grade gut genug. Und das gilt noch für viele andere Berufe und Arbeitsfelder.
    Wie armselig ist das denn, frag ich mich?
    Wer akut ins Krankenhaus kommt, fragt nicht, wer ihm den Hintern putzt, oder die Narkose macht.

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    • 23. Juli 2023 um 18:55 Uhr
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      Hallo Renate, Deine Sicht der Dinge möchte ich nicht in Frage stellen oder kommentieren. Es ist Deine Meinung, Basta. Vor wenigen Minuten las ist eine sehr interessante Abhandlung des von mir sehr geschätzten Oberbürgermeisters Boris Palmer. Er hat sich grundsätzlich und sehr scharfsinnig mit diesem, uns alle betreffenden Themas befasst. In der renommierten Zeitung Welt, machte er mit einer brillanten Analyse seine Sichtweise in einem bemerkenswerten Artikel deutlich:

      Brillante Analyse von Boris Palmer (aus der WELT):

      „Zwei Nachrichten vom selben Tag: Die AfD erreicht bei einer Wahlumfrage in Baden-Württemberg mit 19 Prozent ein Allzeithoch. Und: Die Mehrheit der befragten Entscheider des Allensbacher Elite-Panels ist der Meinung, Deutschland habe den Zenit überschritten.
      Ich mag die Rolle als AfD-Versteher nicht, aber ich halte es für eine staatsbürgerliche Pflicht, deren Aufstieg nicht gleichgültig zu beobachten. Und wer diesen stoppen will, sollte verstehen, woher er rührt.
      Wenn 19 Prozent der Baden-Württemberger sagen, sie wollten die AfD wählen, fällt die Erklärung mit den vermeintlichen Demokratiedefiziten hinterwäldlerischer Ossis flach.
      Die einfache und weitverbreitete These, schuld seien CDU-Chef Friedrich Merz, CSU-Chef Markus Söder und alle, die Themen ansprechen, die der AfD Auftrieb geben, halte ich ebenfalls für wenig überzeugend. Sie leidet daran, dass man das Wahlvolk zu verhetzten Subjekten degradiert und den Leuten unterstellt, dass sie sich nur mit eingebildeten Problemen beschäftigen. Dass die AfD verschwindet, wenn niemand in der Politik mehr über Probleme mit Migration und Geflüchteten redet, ist einfach unwahrscheinlich.
      Viel plausibler erscheint mir, dass die Leute etwas ernsthaft umtreibt, für das sie bei den etablierten Parteien keine Lösungen mehr sehen. Ich glaube, dass es sich um Angst vor dem Verlust der Heimat handelt, verbunden mit der Sorge vor wirtschaftlichem und sozialem Abstieg. Und da scheint es mir bemerkenswert, dass immer mehr Entscheider zumindest die Bedenken hinsichtlich der wirtschaftlichen Zukunft des Landes teilen, man also nicht nur von eingebildeten Problemen eines geistigen Prekariats ausgehen kann.
      Ich werde selbst seit mehr als einem Jahrzehnt für das Allensbach-Panel befragt. Die Fragestellung war noch nie so auf wirtschaftliche Sorgen fokussiert wie dieses Mal. Und weil ich auch noch nie so viele alarmierte Unternehmensführer getroffen haben wie in den vergangenen Monaten, habe ich die Frage, ob Deutschland seinen Zenit überschritten habe, selbst mit Ja beantwortet.
      Der Cocktail aus Bürokratieverstrickung, Digitalisierungsrückstand, Energiekostenexplosion, Fachkräftemangel, Nachfrageausfall und politischer Nonchalance ist zu giftig geworden.
      Wenn ich über die Dörfer in Baden-Württemberg fahre, stehen dort verfallende Gasthäuser an den Hauptstraßen wie Mahnmale zur Erinnerung an eine bessere Zeit. Die hiesige Schlüsselindustrie, der Fahrzeugbau, steht vor dem Verbot seines 125-Jahre-Dauerrenners, des Verbrennungsmotors, und Batterien sind hierzulande bisher nicht konkurrenzfähig herzustellen. Elektroautos made in Germany sind ein Ladenhüter. Wenn man den Trend im Automobilbau zehn Jahre weiter rechnet, ist Baden-Württemberg ein neues Ruhrgebiet.
      Das alles ist so offensichtlich, dass es auch Menschen, die man für weniger intelligent hält als sich selbst, kaum verborgen bleiben kann. Und bei vielen ist die Krise längst angekommen. Kurzarbeit und betriebsbedingte Kündigungen haben wieder eingesetzt. Die Inflation macht das Leben teurer. Der Wohnungsbau ist zum Erliegen gekommen. Ein Eigenheim aus eigenem Einkommen zu finanzieren, ist faktisch unmöglich geworden. Eine bezahlbare Wohnung zu finden ist ein Sechser im Lotto.
      Wenn dann der Bundeskanzler beständig von einem bevorstehenden großen Aufschwung redet, sind Zweifel an der Realitätsnähe der Berliner Politik im einfachen Volk nicht gänzlich irrational.
      Die durchaus begründeten Sorgen um das eigene Wohlergehen eines immer größeren Teils der Gesellschaft und die Abwendung vieler Unternehmenslenker vom Standort Deutschland unterscheiden das Jahr 2023 vom Jahr 2015. Damals befand sich das Land im Daueraufschwung. Die Wirtschaft ließ sich durch nichts aus dem Tritt bringen, es schien so, als könnten wir uns die Aufnahme von einer Million Flüchtlingen leisten, ohne spürbare Wohlstandsverluste hinnehmen zu müssen.
      Das ist nun ganz anders. Wenn wieder Wohnraum für Geflüchtete geschaffen und umgewidmet wird, protestieren immer mehr Menschen und fragen, wo sie selbst wohnen sollen. In der Stadt Tübingen, für die ich Verantwortung trage, sind alle seit 2015 im Saldo neu geschaffenen Sozialwohnungen mit Flüchtlingen belegt. Die Verzweiflung der Wohnungssuchenden, darunter besonders viele mit Migrationshintergrund, wächst.
      Die Akzeptanz der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine ist groß. Aber die Ablehnung der nun wieder dominierenden Gruppe arabischer und afrikanischer Flüchtlinge mit einem großen Überhang junger Männer nimmt zu, weil die Ressourcen in den Kommunen erschöpft sind.
      Der nicht abreißende Strom der Nachrichten von Messerangriffen im öffentlichen Raum und in öffentlichen Verkehrsmitteln, bei denen sich regelmäßig ein Geflüchteter als Täter ermitteln lässt, verbindet diese Entwicklung mit dem Gefühl eines gravierenden Sicherheitsverlustes, wie die viel kritisierte Polizistin Claudia Pechstein korrekt berichtet hat.
      Die Freibadschlägereien sollte man auch nicht als Sommerlochproblem abtun. Sie werden von vielen Menschen als Symbol verstanden, dass uns die Lage langsam entgleitet und man sich im eigenen Land nicht mehr wohlfühlen kann, sobald man das Haus verlässt.
      Wie also ließe sich der Aufstieg der AfD am besten stoppen? Ich meine, es bräuchte dafür an erster Stelle eine nationale Kraftanstrengung für unsere Wirtschaft.
      Dazu müssten gehören: ein drastischer Abbau von Bürokratie und wirtschaftsfeindlichen Vorschriften; eine Wiederentdeckung des Leistungsprinzips an Stelle des Proporzdenkens bis in den letzten Winkel der Gesellschaft; endlich ein Deutschlandtempo beim Ausbau einer preiswerten und klimaneutralen Energieversorgung und der Digitalisierung; eine starke Antwort auf die Investitionsanreize der USA aus Europa; und die Einsicht, dass unser Bildungssystem heillos überfordert ist, soziale Probleme, Kinder von Geflüchteten und Inklusion in einer Klasse ohne Lehrer zu bearbeiten.
      Es müsste wieder ein Ruck durch das Land gehen, der Hoffnung macht, dass wir es packen. Die Angst kann sich so schnell ausbreiten, weil der Eindruck dominiert, das Land ergebe sich widerstandslos seinem Schicksal.
      Und was die Migrationsfrage angeht, war es noch nie so einfach, den Menschen die Ängste zu nehmen, wie heute.
      Nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung hat Angst vor eingewanderten Krankenschwestern, Köchen, Altenpflegern oder Metallbauern. Diesen Menschen müssen wir die Tore öffnen.
      Es ist aber in jedem Dorf und an jedem Bahnhof sichtbar, dass wir in großer Zahl Menschen bei uns aufnehmen, die keinen Beitrag zu unserer Wirtschaft leisten und keinen Asylanspruch haben. Diesen Menschen an den Außengrenzen in einem rechtsstaatlichen Verfahren aufzuzeigen, dass sie nicht nach Europa einwandern dürfen, ist gerecht und notwendig.
      Die Einigung der europäischen Regierungen auf eine gemeinsame Asylpolitik sollte in Deutschland nicht mehr als Unglück dargestellt, sondern entschlossen unterstützt werden. Auch für die meisten AfD-Wähler wäre das eine Lösung, die sie akzeptieren könnten.
      Die damit verbundene Härte gegenüber unberechtigten Einwanderern ist unverzichtbar, um die Migration zu ordnen. Die berechtigte Erwartung eines großen Teils unsere Bevölkerung, dass Deutschland Menschen in echter Not weiterhin Hilfe leistet, ließe sich viel effektiver und vernünftiger erfüllen, wenn wir dem Vorschlag von Thorsten Frei (CDU) folgen und diejenigen, die unsere Hilfe am dringendsten brauchen, direkt ins Land holen.
      Auch das würde bei migrationsskeptischen Bürgern viel größere Akzeptanz finden als das heutige System, das bei immer mehr Menschen den Eindruck erweckt, als stünde der Staat hilflos einer immer größer werdenden Zahl von Armutsflüchtlingen gegenüber, die sich den Zutritt zum eigenen Dorf, zur eigenen Nachbarschaft, erzwingen können.
      Wer den Aufstieg der AfD stoppen will, muss also dem drohenden wirtschaftlichen Niedergang unseres Landes entschieden entgegentreten und die Ordnung der Migration durch die Beschlüsse der EU zu einem gemeinsamen Asylsystem nach Kräften fördern. Die AfD bekämpft man nicht durch eine Eskalationsspirale der Beschimpfung und moralischen Abwertung, sondern durch kluge Problemlösungen.“
      https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus246510676/Boris-Palmer-zum-AfD-Zulauf-Deutschland-hat-den-Zenit-ueberschritten.html?

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      • 23. Juli 2023 um 20:00 Uhr
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        Hallo Siggi
        noch eine kurze Antwort.
        Mir geht es um die Menschenwürde und das niemand bereits verurteilt ist, bevor man ihn kennt und um die Sicht, daß die Gesellschaft in Deutschland schon lange nicht mehr rund liefe ohne die Arbeit von Migranten in allen möglichen Arbeitsfeldern.

        Antwort
  • 20. Dezember 2023 um 15:38 Uhr
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    Angst wird vorwiegend erzeugt, wenn man die Nöte, Sorgen und Schwierigkeiten der Menschen, die zu uns kommen nicht kennt/kennenlernen möchte.
    Wenn diese Angst durch ein tatsächliches Gegenüber im Gespräch oder durch gute Kontakte ersetzt wird und christliche Nächstenliebe nicht nur bei Worten bleibt, dann ändern sich vorwiegend die Vorverurteilungen und auch unsere Ängste.

    Antwort

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