Wenn ein Baum erzählen könnte
Da steht sie nun wie in den vergangenen 350 Jahren in einer sehr nüchternen Umgebung. Einst spendete die majestätische Eiche den unter ihrem Blätterdach lustwandelnden Adligen sowie dem Hofstaat großzügig Schatten und den Bediensteten im Herbst noch großzügigere Beschäftigung beim Laubrechen. Als sie gepflanzt wurde- wann das aufs Jahr genau war, lässt sich nicht mehr feststellen- bewegte sich Europa auf eine kleine Eiszeit zu. Ein dramatischer Klimawandel veränderte die Lebensbedingungen besonders der Menschen, die schon vorher nicht auf Rosen gebettet waren. Die Winter waren lang und die Sommer kurz und kühl. Der Rückgang der Durchschnittstemperatur betrug „lediglich“ zwei Grad. Es brachen Hungersnöte aus, weil die Ernten nicht für die Versorgung der Bevölkerung ausreichten. Der damals noch junge Baum wurde vielleicht in seiner Entwicklung gebremst, ansonsten ging ihm der Klimawandel buchstäblich an der Rinde entlang. Die Menschen hingegen sprachen von einer Strafe Gottes und die Zeit der Hexenverbrennung erreichte ihren Höhepunkt. Um 1700 normalisierten sich die Umweltbedingungen für das menschliche Dasein wieder, aber die europäische Gesellschaft hatte sich in der drei Generationen währenden „Eiszeit“ verändert. Die Eiche entwickelte sich weiter und ihr Stamm weckte sicherlich manches Mal Begehrlichkeiten, ihm mit der Trummsäge und der Axt zu Leibe zu rücken. Sie vertraute jedoch auf den Schutz, den sie alleine ihrer Symbolik verdanken konnte- Eichen standen seit jeher für Kraft, Beständigkeit und für den Kampf, einschließlich des Sieges. In der Religion war (und ist?) der knorrige Baum ein Sinnbild für ewiges Leben. Das war jedoch nicht immer so. Gerade an der Eiche haben sich in der Zeit der Christianisierung die Geister geschieden. Es gab die für die Germanen heilige Eichen, die zum Teil von christlichen Missionaren (z.B. Bonifatius) in religiösen Eifer gefällt wurden. In späteren Jahren instrumentalisierte man jedoch die „Fürsten der Wälder“ für das Christentum. So wurden aus den keltischen „Duir“ plötzlich die Marien-Eichen. Wie viele Wildschweine werden sich wohl an ihrer Rinde geschabt und sich über ihre Früchte hergemacht haben? Denen, den sie ihr Leben lang schon Freude und Verlässlichkeit spendete, müssen ihr heute helfend unter die ausladenden Äste greifen. Ihre Kraft hat nachgelassen, auch wenn die Taille mittlerweile stolze sieben Meter Umfang erreicht hat. Zum Glück belastete der vergangenen Winter die mächtige Krone nicht mit Schnee. Jetzt aber, wenn die Blätter wachsen, sind die vielen Seile und Gurte die sie zusammenhält ein Segen. Hat auch in der heutigen Zeit der symbolische Charakter der bis zu 1000 Jahren alt werdenden Bäume nicht mehr die Bedeutung von einst, so freuen sich die Menschen immer noch in ihrem Schatten gemütlich mit Freunden zusammensitzen zu können. Text und Fotos: Siegfried Gerdau