Eine Demo gegen Judenhass wäre dringend notwendig

@Aufklärung über die Gebote der Unfreiheit. (Eingestellt von Boris Palmer)

Einer der wichtigsten Texte zu muslimischer Realität in Deutschland.

Dazu gehört ein klarer Blick und viel Mut. Danke!

Zu viele meist muslimische Einwandererkinder wachsen mit den Geboten der Unfreiheit auf“

Ich rate jüdischen Freunden, Neukölln zu meiden? Das sollte nicht mein Job sein als Beauftragte für Integration. Ein Appell.

Gastbeitrag von Güner Yasemin Balcı

Die Feindseligkeit gegenüber Juden gehört für mich zum Alltag, seit ich ein Kind in Berlin war. Und Antisemitismus ist in meinem Alltag heute – als Integrationsbeauftragte vom Bezirk Neukölln seit vier Jahren – stets präsent. Er war es vor dem 7. Oktober, und er ist es natürlich jetzt in diesen Tagen.

Ich wurde als Kind türkischer Einwanderer in den 70er-Jahren in Neukölln geboren, ich wuchs dort auf, ich war viel unterwegs und bin dann immer hiergeblieben. Als Kind und Jugendliche in einem Stadtteil, der geprägt ist von Einwanderung aus arabischsprachigen Ländern, begegnete man hier der Feindseligkeit gegenüber Juden auf der Straße, in der Schule, in Vereinen und Organisationen, in Moscheen, im Alltag mit Freundinnen und Freunden. Kinder und Jugendliche, die in Milieus wie ich aufwachsen, stehen fast immer vor zwei Bekenntniszwängen: Bist du Muslim? Und: Bist du für Palästina?

Für uns Mädchen kam (und kommt) ein dritter dazu. Es ist die Frage nach der Jungfräulichkeit. Mädchen wachsen mit dem Bewusstsein auf, dass sich ihr Wert als Mensch daran bemisst, wie „rein“ sie sind.

Ja, mein Kampf als Frau war auch ein Kampf mit Fäusten

Die Antworten entscheiden darüber, ob man dazugehört oder nicht, ob man Freund ist oder Feind. Dem etwas entgegenzusetzen, ist nicht leicht, vor allem nicht, wenn es in der eigenen Lebenswelt kaum noch andere Meinungen dazu gibt und die eigene Subkultur zur einzigen Möglichkeit der Identitätsfindung für Kinder wird. Ich habe mich als Jugendliche diesem Diktat hier in Neukölln nie gebeugt, und ich kann sagen: Es war ein Kampf, den ich unter anderem auch mit Fäusten austrug.

Während Politiker fast aller Parteien nun seit dem 7. Oktober das Mantra des „Antisemitismus hat keinen Platz in Deutschland!“ beschwören, ist keinesfalls für alle, aber für viele Einwanderer, besonders für Muslime, ein eingefleischter Antisemitismus ein nahezu selbstverständlicher Teil ihrer kulturellen Identität. Wer das nicht erkennen will, wird nie etwas verändern. Gegen Juden zu hetzen, sie zu verhöhnen, ihnen zu drohen, in Einzelfällen auch physisch gewalttätig gegen sie zu werden, sind Markenzeichen dieser Identität. Schon in meiner Jugend wurde mir das bewusst, manchmal reichte allein der Vorname David, um im Viertel als „Jude“ beschimpft zu werden. Dennoch wurde Neukölln in den letzten Jahren zu einem Bezirk, der auch viele junge jüdische und israelische Menschen anzog. Trotz der steigenden antisemitischen Straftaten fanden viele ihre Nische, die berühmte Kunst- und Partyszene hier stiftete viel Sinn und Frieden.

Mit dem 7. Oktober aber sind wir alle wie in einer anderen Realität aufgewacht. Abgeschlachtete Zivilisten, die Vergewaltigungen, das Bespucken von halb nackten Frauen mit verdrehten Körpern, die verstümmelten jüdischen Kinder vor laufenden Kameras führten auf der Sonnenallee nicht nur zu spontanen Ansammlungen von Menschen, die all dies als legitim ansahen: sondern die all dies sogar feierten. Seit es sie gibt, will die Terrororganisation Hamas den jüdischen Staat, will sie die Juden vernichten. Viele Muslime – weltweit wie hier in Neukölln – sind entsetzt über diesen Hass auf Juden. Dass die Hamas aber exakt wegen ihres Vernichtungswillens gegenüber den Juden alltäglichen Zuspruch bei vielen anderen muslimischen Migranten erfährt: Das ist die Realität hier, und das ist ein Menetekel – zuerst für die Juden, dann für Deutschland.

Jüdische Freunde von mir ziehen es immer häufiger vor, solch feindselige Milieus als No-go-Area zu meiden, keine sichtbaren Kennzeichen ihrer religiösen Überzeugung zu zeigen, sich unsichtbar zu machen. Ihre Kinder schicken sie selbstverständlich nicht auf staatliche Schulen mit hohem Migrantenanteil. Diese Juden bleiben heute wieder viel unter sich. Teilhabe an unserer Gesellschaft? Um das klar zu sagen: Ich empfehle jüdischen und israelischen Besuchern in Berlin heute, besonders wachsam zu sein, bestimmte Orte und Menschenansammlungen in meiner Stadt zu meiden. Und ebenso klar: Nein, das sollte nicht die Kernaufgabe einer Integrationsbeauftragten sein.

Der migrantische Judenhass konnte in Deutschland jahrelang ungehindert wachsen – er existiert vollkommen selbstverständlich neben dem Hass auf Juden unter den hiesigen Rechtsradikalen, Kleinbürgern und innerhalb der linken Akademikermilieus. Wir Deutsche „gedenken“ der schuldbeladenen Vergangenheit, wir pflegen unsere Erinnerungskultur, aber suchen wir wirklich und aufrecht die Auseinandersetzung, die verbale Konfrontation mit all jenen, die in der Hamas keine Terror-, sondern eine Freiheitsbewegung sehen?

Falsche Rücksichtnahme ist fatal, auch für viele liberale Muslime

Israelhasser, BDS-Sympathisanten und islamistische Akteure werden stattdessen bis heute aus staatlichen Töpfen gefördert. Etliche Migrationsexperten tragen dazu bei, dass jede Kritik an der antisemitischen und demokratiefeindlichen Weltanschauung unter vielen Einwanderern als „Rassismus“ und „islamophob“ geächtet wird. Nur so konnte der Begriff des „antimuslimischen Rassismus“ fest im Integrationsdiskurs verankert und die Muslime zu den „neuen Juden“ erklärt werden.

Die international anerkannte und von der Bundesregierung empfohlene Definition für Antisemitismus der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) wird von diesen „Experten“ und ihren Unterstützern für unzumutbar gehalten. Die Bundesregierung schweigt nicht immer, aber oft, wer möchte sich schon von den vielen Deutschen mit Migrationshintergrund als Rassist beschimpfen lassen. Dabei ist diese Entwicklung nicht nur ein Brandbeschleuniger für Judenhass, sie ist auch und vor allem eine Bedrohung für die vielen säkularen Migranten, die liberalen Muslime, und: für unsere individuellen und universellen Rechte als Frauen!

Ausgelöst wurde dieses Totalversagen übrigens einst durch eine besondere Spielart des Rassismus: Es gibt, so erscheint es mir, eine spezifisch deutsche Überheblichkeit, die es in den 60er-Jahren (als auch meine Eltern nach Deutschland einwanderten) unmöglich machte, diese Einwanderer als ebenbürtige Bürger zu sehen, mit allen damit verbundenen Rechten und Pflichten. Sie waren „Gastarbeiter“, die hier arbeiten, Geld verdienen und schließlich wieder gehen würden – warum sich mit ihnen befassen? Als man begriff, dass wir gekommen waren, um zu bleiben (wie etwa auch deutsche Einwanderer nach Amerika gekommen waren, um zu bleiben), wurde uns ein exotischer Sonderstatus eingeräumt. Wir wurden unter Naturschutz gestellt, wir waren wieder keine gleichberechtigten Bürger. Kritik und Diskurs auf Augenhöhe? Nicht möglich.

Zu dieser Wahrheit gehört dann auch: Selbst die hoch idealistischen Verteidiger einer aktiven Migrationspolitik wollen sehr oft nicht wahrhaben, dass Migranten nicht immer per se gut und wichtig sind, sondern dass sie ein Land auch vor Herausforderungen stellen. Dieser Mangel an Aufrichtigkeit erzeugt bei vielen aus unseren Milieus einmal mehr das Gefühl, nicht wirklich ernst genommen zu werden. Eine Einwanderungsgesellschaft muss ständig dazulernen, kontinuierlich an Institutionen und Instrumenten der Integration arbeiten, sie muss Überzeugungsarbeit leisten. Sonst erzeugt Einwanderung nur Angst, gar Wut.

Wissenswertes erfuhr ich im feministischen Frauenbuchladen

Es werden noch mehr Menschen zu uns kommen, so oder so. Wieso befähigen wir uns nicht genau jetzt, Einwanderung zu managen? Erst dann können wir von einer Integration sprechen, die nicht nur Anpassung ist.

Das wirklich Gute: Es gibt vieles, was uns alle verbindet – vielleicht weil wir alle mal Migranten waren, mag das auch so lange her sein, dass wir es vergessen haben. Die Einheimischen und die Eingewanderten, die neuen und die alten Migranten, egal aus welcher Kultur, werden nur miteinander, nicht gegeneinander, eine Zukunft haben.

Als ich in der sechsten Klasse war, entdeckte ich die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi und ihr Buch „Geschlecht, Ideologie, Islam“ (1987). „Es entbehrt nicht der Ironie“, schrieb sie, „dass die islamische und die europäische Theorie zu derselben Schlussfolgerung kommen: Die Frau ist eine destruktive, die Gesellschaftsordnung bedrohende Kraft …“ Das Buch stand im Regal eines feministischen Frauenprojekts hier in Neukölln, und es war für viele Menschen in und aus muslimischen Ländern in den 1980er-Jahren ein Weckruf. Fatima Mernissi und die ägyptische Ärztin, Menschenrechtsaktivistin und Schriftstellerin Nawal El Saadawi legten bei mir damals den Grundstein feministischer Aufklärung. Ich verstand nun besser, warum die arabische Mädchengruppe im Neuköllner Rollbergkiez immer unter Ausschluss von Jungen stattfand, während wir weniger konservativ erzogenen Teenager-Mädchen keine Gelegenheit ausließen, mit den Jungs aus dem Viertel abzuhängen.

Die Lektüre brachte mir bei, die Muster des Diktats einer religiös und kulturell streng vorgeschriebenen Geschlechtertrennung in vielen Alltagssituationen zu erkennen: unbeaufsichtigte Kinobesuche? Für Mädchen tabu. Tanzveranstaltungen? Für Mädchen verboten. Fahrradfahren? Verboten. Der Erhalt der Jungfräulichkeit war in diesen Kreisen oberstes Gebot für Töchter aus muslimischen Familien, es war zur alles bestimmenden Regel pervertiert. Mitten in Neukölln erschloss sich mir durch die Lektüre arabischsprachiger Vordenkerinnen ein Universum an Aufklärung. Diese Kritik an der Aufklärungsfeindlichkeit in der Lebenswelt so vieler Einwanderer kam nicht aus der deutschen Politik, denn, siehe oben, wer will schon Rassist sein? Sie lag auf einem Tisch in einer feministischen Kiez-Buchhandlung.

Während wir uns nun in der Schule durch Goethes „Leiden des jungen W.“ quälten, spielten sich, vom deutschen Bildungsbürgertum dezent ignoriert, täglich die Leiden all der armen Alis und Hasans ab, die daheim darauf getrimmt wurden, Stammhalter eines patriarchalischen Systems zu werden. Nur so konnte der Kulturverrat in der Fremde verhindert, nur so konnten die Werte der „Heimat“ bewahrt werden. Wer entwurzelt ist, hat es nicht leicht …

Wir müssen aufklären! Wir müssen in die Schulen!

Noch einmal: Es gab immer und gibt bis heute viele moderne, aufgeklärte Einwandererfamilien. Aber viel zu viele meist muslimische Einwandererkinder wachsen mit den Geboten der Unfreiheit auf. Von uns – den Andersdenkenden aus ihrer eigenen Kultur – erfahren sie nichts. Niemand drückt ihnen die Bücher des algerischen Schriftstellers Kamel Daoud in die Hand, niemand erzählt ihnen von Yaşar Kemal, einem der wichtigsten literarischen Stimmen der Türkei, oder von dem feministischen kurdischen Theaterautor Mehmet Sait Alpaslan, der gegen Ehrenmorde kämpft. Weder in ihren Elternhäusern und schon gar nicht in der deutschen Schule kennt man diese Namen.

Vielleicht hätten wir mit Hilfe dieser Stimmen früher erkannt, dass es für junge Männer aus patriarchalisch geprägten Familien kaum einen anderen Ausweg gibt, als ihre Versagensängste hinter einem zur Schau gestellten Erwähltsein zu verbergen, das in religiösem Fanatismus zur Hochform aufläuft. Vielleicht hätten wir auch schneller erkannt, dass nationalistische und extrem rechte Einstellungen auch innerhalb migrantischer Gruppen unsere Freiheit bedrohen.

Es sind vor allem die klugen Köpfe aus muslimischen Ländern, die schon viel länger, viel mutiger gegen Antisemitismus, gegen Frauenhass und Hetze gegen Homosexuelle gekämpft haben. Manche von ihnen leben in ihrer Heimat in täglicher Todesangst, andere sind längst ins Exil gegangen und auch zu uns gekommen. Die Artikel des türkischen Journalisten Can Dündar über den wachsenden Einfluss religiöser Extremisten, die Texte und Vorträge des ägyptisch-amerikanischen Intellektuellen Hussein Aboubakr Mansour über den Judenhass in der arabischen Welt, die Analysen zum Zusammenhang zwischen Terror und „legalistischem“ Islam der muslimischen Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin Dalia Ziada – sie könnten uns helfen, all dies gerade besser zu verstehen, Antworten zu finden.

Der 7. Oktober hat gezeigt, wer Freund und wer Feind ist. Nicht nur den Juden. Uns allen. Wenn wir es ernst meinen, dass Antisemitismus keinen Platz in Deutschland hat, müssen wir viel verändern. Wir müssen aufhören, uns bei jedem Argument gegenseitig Herablassendes zu unterstellen, wir müssen argumentieren, wir müssen Realitäten anerkennen, schwarze, weiße und graue. Wir müssen sehr, sehr viel Geld ausgeben – wir müssen aufklären: Wir müssen in die Schulen!

Es ist ein Ziel nicht für Sprinter, es ist ein Ziel für Marathonläufer.

Güner Yasemin Balcı, geboren 1975 in Berlin-Neukölln, ist seit 2020 die Integrationsbeauftragte des Bezirks. Sie arbeitete früh in einem Modellprojekt zur Gewaltprävention im Rollbergviertel und in einem Mädchentreff für Jugendliche aus türkischen und arabischen Familien. Sie ist seit vielen Jahren Autorin und Dokumentarfilmerin.

https://www.sueddeutsche.de/…/juden-hass-berlin…

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