Nach 97 Jahren ohne Zukunft?

Der traditionsreiche Automobilzulieferer Selzer in Driedorf-Roth ist gewaltig in Schieflage und die Belegschaft in großer Sorge, wie lange sie noch ihre Arbeitsplätze behalten. In der strukturschwachen Region wird es nicht so leicht sein, wieder etwas vergleichbaren zu bekommen, um die Zukunft ihrer Familien zu sichern . Der Betriebsrat kämpft um das Schicksal des Betriebes und um die Existenz der Werksangehörigen. Jetzt wendet er sich mit einem Situationsbericht an die Öffentlichkeit.

Ist die Umstrukturierung der Autoindustrie an dem Selzer-Management vorbeigegangen und hat man die Zeichen der Zeit in Driedorf-Roth schlicht und einfach nicht erkannt? Die Corona-Pandemie hat die seit Jahren zu beobachtende Negativentwicklung des Unternehmens höchstens noch verschärft. Die ehemaligen Eigner haben auf ihre Weise gehandelt. Sie hatten bereits vor einigen Jahren das in Schieflage befindliche Schiff verlassen. Die Seefahrt war da kein Vorbild. „Der Kapitän verlässt als letzter das Schiff, auch wenn ihm nur noch ein paar Planken daran gehören“.

Gespannte Gesichter bei der ersten Selzer – Betriebsversammlung nach dem Corona-Lockdown. Spätestens beim Betreten des Veranstaltungsortes ist jedem klar, dass nichts so ist, wie man es in der Vergangenheit gewohnt war. Sitzen im Freien, Mund-Nase-Bedeckung beim Betreten des Innenhofes, Hände desinfizieren und registrieren der Teilnehmer auf einer Liste. Die Betriebsräte der beiden Unternehmen Selzer-Fertigungstechnik und Selzer-Systemtechnik hatten sie große Mühe gegeben, um die gültigen Corona Vorschriften einzuhalten. Wichtige Gründe für die Durchführung dieser Betriebsversammlung gab es genug. Selzer, ein traditionsreiches Unternehmen hätte im Jahr 2023 sein 100jähriges Bestehen zu begehen.

Dunkle Wolken über dem Driedorfer Traditionsunternehmen Selzer.

Zu feiern gibt es aber derzeit wenig beim mittelhessischen Automobilzulieferer und ob das Jubiläum zum vollen Jahrhundert noch stattfinden kann, da sind viele der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr skeptisch. Um die Teilnehmerzahl im geforderten Rahmen zu halten, wurde die Betriebsversammlung in zwei Veranstaltungen aufgeteilt. Die Themen aber waren identisch. Schon vor der Corona-Krise standen die Zeichen auf Personalabbau und die aktuelle Pandemie hat das Ganze noch massiv verschärft. Strukturwandel in der Automobilbranche, Automatisierung der Fertigung und allgemeiner Umsatzrückgang im Jahr 2019 waren die Gründe der Geschäftsleitung, um den Abbau von fast 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über beide Unternehmen zu rechtfertigen. Die Betriebsräte legten bereits 2019 ein Konzept vor, um den Abbau der Arbeitsplätze zu vermeiden aber aus Sicht der Geschäftsleitung ging kein Weg an den Kündigungen und der damit verbundenen Personalkostenreduzierung vorbei. Die Betriebsräte verwiesen zusätzlich auf den überstürzten Personalabbau im Jahr 2009 während der Finanzkrise, aus dem man doch eigentlich hätte lernen können. Bereits damals hatte man die zur Verfügung stehenden Mittel nicht genutzt, um das Personal an Bord zu halten und so wurden seinerzeit die meisten Mitarbeiter nach einigen Wochen wieder „eingesammelt“, um die wieder gestiegenen Kundenaufträge abarbeiten zu können. Heute im Corona Jahr 2020 gab es bei während der Betriebsversammlung viele Hiobsbotschaften. Die Entscheidungen, die aktuell seitens der Geschäftsleitung getroffen werden, jagen den Betriebsräten die Sorgenfalten auf die Stirn – geht es doch um Erhalt der Arbeitsplätze in Driedorf Roth. Zum einen ist es der neue Standort in Bosnien, an dem die Produkte gefertigt werden sollen, die aufgrund der Verwendung in Hybridfahrzeugen gute Zukunftsaussichten haben. 300 Arbeitsplätze sollen im bosnischen Rajlovac entstehen. Die Betriebsräte erfuhren davon lediglich aufgrund einer Pressemitteilung im Internet, die über die Unterzeichnung der Verträge in Zusammenarbeit mit der ASA-Group berichtete. Aufbau Osteuropa – Abbau in Driedorf? „Wir sind zu teuer“, war die schlichte Antwort der Geschäftsleitung auf die Frage aus der Belegschaft nach dem „Warum“. Bereits im Jahr 2015 hatte die Belegschaft auf Teile ihres Lohns verzichtet, um das Unternehmen wettbewerbsfähig in die Zukunft zu führen. Genutzt wurde das Geld aber lediglich zum verbessern des Geschäftsergebnisses.

Zum anderen wurde über die Schließung der Ausbildungswerkstatt berichtet, was auf völliges Unverständnis auf Betriebsratsseite stieß. Selzer und die Region brauchen gut ausgebildete Facharbeiter und die Aufrechterhaltung der Ausbildung gehört nach Meinung des Betriebsrates nicht nur zum Entgegenwirken des so oft seitens des Arbeitgeberverbandes angeprangerten Fachkräftemangels sondern ist auch eine gesellschaftliche Verantwortung.

Bereits im Mai 2020 forderten die Betriebsräte die Einführung von Kurzarbeit um die wegbrechenden Aufträge seitens der großen Autobauer zu kompensieren und um weiteren Personalabbau zu vermeiden. Erst nach langen Verhandlungen war die Geschäftsleitung bereit, eine entsprechende Betriebsvereinbarung, die nun eine Beschäftigungssicherung bis Ende März 2021 beinhaltet,  zu unterschreiben und dann ab Ende Juni die Kurzarbeit einzuführen.

Aus dem Bericht der Geschäftsleitung ging ebenfalls hervor, dass ab dem 1. August 100 Prozent der Selzer-Anteile der Indus Holding gehören und die Familie Selzer somit aus dem operativen Geschäft ausscheidet. Der Austritt aus dem Verband mit Tarif, die Ankündigung der endgültigen Schließung der Kantine sind dabei nur weitere Bausteine, die den anwesenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Glauben an den Standort Driedorf Roth verlieren lassen. Viele verlassen derzeit freiwillig das Unternehmen, um an anderer Stelle für ihre persönliche berufliche Zukunft zu sorgen. Die Betriebsräte und die IG-Metall haben noch in den Versammlungen die Bereitschaft zu weiteren Verhandeln über einen zukunftsorientierten Plan signalisiert. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass der Eigentümer der Selzer Unternehmen eine Zukunft nicht nur in Bosniern, sondern auch am Standort Driedorf Roth plant. Die Antwort darauf und das Bekennen zum Standort Roth blieb die Geschäftsleitung leider schuldig. 

Es ist die Rede vom Abbau von 90 Arbeitsplätzen und dass für diese Mitarbeiter ein Sozialplan bestehe.

Wie weiterhin bekannt wurde, hat der Geschäftsführer  Henkel zurzeit Unternehmensberater in das Unternehmen geholt. sig/Foto: Gerdau