Eine Buchbesprechung
„Wolfszeit“ ein Titel der reißerisch klingt und es wohl auch soll. Dabei hat der Autor Harald Jähner sich in seinem fast 500 Seiten Wälzer mit einem Thema befasst, dass sicher keine Vorlage für einen Triller oder spannende Unterhaltungslektüre ist.
Mit seinem Sachbuch mit dem Untertitel „DEUTSCHLAND UND DIE DEUTSCHEN 1945 – 1955“ taucht er tief in eine Zeit, die von den Geschichtsschreibern hier und da einmal gestreift wird. Diese zehn Jahre nach Ende des furchtbaren Krieges, als das einst so willkürlich und rücksichtslos ganze Völker unterjochende Nazi-Regime am Boden lag und sich in den Ruinen wieder Leben regte, waren es Jähner Wert, genau beleuchtet zu werden. Um es vorweg zu nehmen, dies ist ihm mit Bravour gelungen. Wohl selten habe ich ein derartiges Buch in die Hand genommen und hätte es am liebsten an einem Stück gelesen.
Zum Buch-Inhalt:
Sehr detailreich und dennoch unterhaltsam beschreibt er schonungslos den Niedergang sämtlicher sittlicher Normen und Gesellschaftsstrukturen. Die Auferstehung aus Ruinen- in der späteren DDR als Nationalhymne besungen- vollzog sich jedoch alles andere als pathetisch. Es ging ums nackte Überleben. Hundertausende Menschen hatten Heimat, Haus und Habe verloren und versuchten sich in einer orientierungslosen Welt über Wasser zu halten. Zu den tausenden ehemaligen Zwangsarbeitern, KZ-Insassen und Kriegsgefangenen kamen etwas später noch die Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten. Der ganz profane Hunger beherrschte (fast) alle. Da gab es aber auch die Schwarzmarkthändler, die ihre Chance erkannten und in dem Elend noch Gewinne machten.
Jähner schafft es Seite für Seite diese mühsam von den Siegermächten regulierte Welt nahezu unterhaltsam und ohne große Schuldzuweisungen dem Leser nahezubringen. Plötzlich versteht der durch die Gnade der späten Geburt von all dem unbelastete, warum die Großeltern Hamstern und fast zwanghaftes Sparen zeitlebens nie mehr ablegen konnten. Es war Wolfszeit und jeder musste an sich denken und hatte kaum Ressourcen für Mitleid und den Nächsten übrig.
Er beschreibt in seinem grandiosen Sachbuch wie sich der deutsche Phönix aus der Asche seiner durch ihn selber verursachten Brandschatzung befreit. Mit arg gestutzten Flügeln, aber einem von der Welt mit Erstaunen beobachteten unbedingtem Willen und Bestreben nach wieder-etwas-zu-sein, werden dabei die verbrecherischen Jahre 1933 bis 1945 einfach ausgeklammert. Diese Ignoranz der eigenen Geschichte und den Millionen Opfern gegenüber, sollte sich jedoch schon bald rächen. Die Alliierten erwarten etwas von ihrem ehemaligen Gegner. Der kommunistische Block hingegen hatte die Spaltung des Landes in Ost und West im Sinn und betrieb sie mit Fleiß. Das Buch fasziniert mich von den ersten Seiten und es wird auch anderen Lesern so ergehen. Wer wissen will, wie sich Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg genauso und nicht anders entwickelte, sollte dieses Buch zur Hand nehmen. Es ist 2019 im Rowohlt-Verlag unter der ISBN 9783737100137 zum Preis von 26 Euro (gebunden) und 16 Euro (Taschenbuch) erschienen.
Zum Autor:
Der 67-jährige Verfasser Harald Jähner war bis 2015 Feuilletonchef der „Berliner Zeitung“. Seit 2011 ist er Honorarprofessor für Kulturjournalismus an der Universität der Künste Berlin.
In der Übersetzung der Snorra-Edda von Karl Simrock wird die Endzeit auch als „Wolfszeit“ bezeichnet. Die sozialen Regeln brechen, die Welt stürzt ins Chaos, die Ordnung kehrt sich um. Das ist die Zeit der Wölfe.
Aus Wikipedia übernommen
Persönliche Ergänzungen:
Für mich, dem Jahrgang 1946, war es auch eine Zeitreise, die mich in die frühen Jahre meines Daseins führt. Es war eine sehr arme Zeit und ich muss mich wundern, wie meine Eltern es schafften sich selber und dann auch noch mich zu ernähren. Als Kind bekommt man das zum Glück alles nicht mit. Abgesehen von den späteren teils handfesten Strafaktionen meiner Mutter, hatte ich eine schöne Kindheit und so ging es wohl auch den meisten meiner Jahrgangskameraden. Klima gab es noch nicht und wir mussten nicht aufpassen gegen Genderregeln zu verstoßen. Unsere Freizeit verbrachten wir in dem nahen Wald und wenn wir mit einer Beule oder einem blauem Auge nach Hause kamen war das eben so. Ich hatte Respekt vor Uniformierten und nicht nur deshalb weil mein Vater selber einmal Polizist war. Die Umwelt war in unseren Augen sauber und das lag vielleicht daran, weil man die Milch noch in Kannen holte. Auch sonst gab es wenig Verpackungsmaterial. Ganz einfach, es gab sehr wenig zu verpacken. Das sonntägliche Stückchen Fleisch war das Highlight der Woche und an den anderen Tagen gabs Gemüse aus dem Garten und im Winter aus Einmachgläsern. Meinen Vater, den gebürtigen Elbinger aus dem damaligen Westpreußen, hatte der Krieg 1945 in Sechshelden ausgespuckt. Seine Familie floh in langen Flüchtlingstrecks aus der Heimat. Mama und Papa lernten sich damals kennen und was aus heutiger Sicht total unpassend war, sie heirateten und wurden Eltern. Bis zu ihrem Tode sprachen sie immer von der „Schlechten Zeit“. Das war sie sicher auch für den Großteil der Menschen. Hatte sich bis 1945 das Unmenschentum in Deutschland etabliert, erlebte man nun ein neues menschliches Miteinander ohne Lager, Verbrennungsöfen, Ortsgruppenleiter und Blockwarte. Meine Eltern, deren Freunde, Nachbarn und alle anderen in unserem kleinen Kosmos arbeiteten gemeinsam freiwillig oder durch die Umstände gezwungen daran, wieder eine anständige Welt aufzubauen. Wenn es auch wenig zu Essen gab und das Handy noch nicht einmal in der Fantasie der Menschen existierte, ich wuchs unbekümmert und unbedarft hinein und empfand die Segnungen unserer Demokratie als selbstverständliche Tatsache. Erst viel später setzte ich mich mit der Vergangenheit auseinander und wusste eins ganz sicher: Das soll unser Volk nicht noch einmal erleben und ich werde alles tun, um solch grauenhaften Exzesse zu verhindern. Ich brauchte mich jedoch Gott-sei-Dank nicht zu bemühen. Unsere Demokratie hat bis heute weitgehend konfliktlos gehalten. Hoffentlich können wir unseren Nachkommen diese glückliche Zeit weitergeben. Dass ich da große Bedenken haben, verschweige ich am Besten.