Kitsch oder Erinnerung

Gedanken von Siegfried Gerdau

Was für den oberflächlichen Betrachter lediglich kitschig ist, bedeutet für eine hochbetagte Dame die Welt ihrer Erinnerungen. An jedem Teil hängt für sie ein Teil ihres Lebens. Es sind Andenken an geliebte Menschen, mit denen sie immer wieder auf die Reise durch ihr gelebtes Leben geht. Mit zunehmendem Alter konzentriert sich das Sein immer mehr auf Den Punkt und nicht selten stellt sie sich wohl die Frage, war das denn schon alles? Wenn die Bewegung immer eingeschränkter wird, die Sinne nicht mehr so mitspielen, wie man es- oft unbewusst- gewohnt war, wird die Erinnerung zu einem wesentlichen Teil des täglichen Lebens. Die kleine Gegenstände, deren Wert lediglich für ihre Besitzerin bedeutsam sind, vergrößern die Distanzen zur Vergänglichkeit. Der Kitsch liegt einzig im Auge des Betrachters. Für die alte Dame sind es Meilensteine, die ihr helfen, den letzten Weg in Frieden zu gehen.

Als ich heute die Seniorin besuchte und in ihrem Zimmer weilte, fiel mit dieser „Altar“ sofort ins Auge. Mich erfasste eine unerklärliche Ergriffenheit, die ich so noch nicht erlebt hatte. Auf dieser kleinen Anrichte stand symbolisch das ganze Leben der braven Frau auf engstem Raum zusammen. Nur sie weiß was sie veranlasste den bunten Kunst-Tulpenstrauß aufzubewahren. Die Weihnachtskerze haben ihr vielleicht ihre Kinder, Enkel oder gar die Urenkel geschenkt. Wie oft wird sie in sorgenvollen, schlaflosen Nächten auf den alten Blechwecker geschaut haben. Nun geht es ihm wie ihr. Er misst die Zeit nicht mehr und seine Existenz besteht nur noch darin ein Andenken zu sein. Der Schokoladen-Nikolaus hat schon lange vergessen, wann er unter dem Weihnachtsbaum lag und das kleine Häschen wartet vielleicht mit der alten Dame auf das nächste Osterfest.

Sie ist so unendlich müde und eine Leere wie in der Apfelsaftflasche breitet sich immer mehr in ihr aus. Möglicherweise steht diese genau deshalb inmitten der anderen Andenken. Die Tage als sie ihren 80. und 10 Jahre später den 90. Geburtstag feierte sind schon so unendlich lange her. Nur Jesus, der gleich neben der alten Wanduhr am Kreuze hängt, weiß warum sie ihre Geschwister schon so lange überlebt hat. Ihm hat sie vertraut und er hat sie nicht enttäuscht. So wird er sie, wenn ihre Lebensuhr auf dieser Erde abgelaufen ist, heim in sein Reich holen.

Nur noch wenige Tage und sie feiert ihren 100. Geburtstag. Dann bekommt der „Altar“ Zuwachs und es hängt vielleicht eine goldene 100 im Lorbeerkranz an der Wand.

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