„Sabbatschänderin“ wird 90

Von Siegfried Gerdau

Die schrecklichen Kriegsbilder der vergangenen Wochen aus der Ukraine wecken auch bei der fast 90-jährigen Laura Gebauer geborene Purr aus Dillenburg- Eibach Erinnerungen, die sie glaubte verdrängt zu haben.

Laura Gebauer

Die rüstige Frau kam am 16. April 1932 in Herlsdorf (Heroltovice) Kreis Bärn im Ostsudetenland auf die Welt und wuchs mit ihren Geschwistern auf dem elterlichen Bauernhof auf. Der Vater betrieb im Ort ein gut laufendes Geschäft mit landwirtschaftlichen Maschinen, die Mutter kümmerte sich um ihren Gemischtwarenladen, Kinder und Hof.

Der unselige Weltkrieg II näherte sich seinem Ende zu. Deutschland lag fast am Boden. Bisher hatten die Purrs in ihrem kleinen 228 Seelen-Dorf nur wenig davon mitbekommen. Das änderte sich schlagartig. „Wir hörten auf einmal das Donnern von Artilleriefeuer in der Ferne und das ging tagelang so weiter“, erinnert sich Laura Gebauer. Bald darauf kamen Soldaten ins Dorf. An den Uniformen erkannten sie, dass es Russen waren. Ihnen folgte die kämpfende Truppe. Haushohe Panzer rollten durch die Straßen, so dass die Häuser wackelten und die Ohren schmerzten.

Als sie weg waren, kamen die Tschechen. Es wurde ein tschechischer Kommissar eingesetzt, der das Dorf verwalten sollte. „Uns wurde schon bald gesagt, dass wir unsere Heimat verlassen müssten. Nicht mehr als 50 Kilogramm pro Frau und Mann durften wir von unserem gesamten Hab und Gut mitnehmen. Der Haustürschlüssel habe in der Tür steckenzubleiben, lautete die unmissverständliche Anweisung.

Per Lastwagen wurden wir Anfang April 1946 mit hunderten anderen Menschen in ein Lager in der nächsten Stadt gebracht. Von dort aus ging es eingepfercht in Viehwaggons ohne Essen, Wasser und WC auf eine ungewisse Reise.

Das Auffanglager für Heimatvertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in Herborn-Burg war Endstation für eine Fahrt, die ich nie vergessen werde“, sagte Laura Gebauer. Nach relativ kurzer Zeit wurden sie in Eibach in die alte Schule eingewiesen. „Wir, meine Eltern, beide Schwestern und ich bekamen zusammen ein kleines Zimmer. Für die Körperpflege und andere Verrichtungen stand für alle lediglich die Schüler-Toilette auf dem Schulhof zur Verfügung.“ Einmal zur Toilette gehen, hieß 52 Treppenstufen runter und auch wieder hinauf. Da überlegte sie sich sehr genau, ob sie wirklich so dringend musste.

Lauras Bruder Alfred lag zu dieser Zeit mit einer schweren Verwundung in irgendeinem Lazarett. Die Familie wusste definitiv nicht, ob er überhaupt noch am Leben war. Es dauerte lange, bis er mit Hilfe des DRK-Suchdienstes gefunden und nach Hause in Eibach geholt werden konnte. Die schlimmen Verwundungen hatten ihn jedoch so schwer geschädigt, dass er im Januar 1948 schließlich daran verstarb.

Laura besuchte die Berufsschule in Dillenburg und erledigte in dieser Zeit verschiedene Strickarbeiten für eine Gladenbacher Firma. Das war nötig, damit sie einen Beschäftigungsnachweis erhielt. Ihre Schwester bekam wegen Krankheit und einer daraus resultierenden Arbeitsunfähigkeit keine Lebensmittelkarten. Diese waren aber für die Familie überlebenswichtig. Hunger sei für sie und ihre Familie der tägliche Begleiter gewesen. Sie erinnere sich noch gut, wenn samstags die Dorfbewohner mit großen Kuchenblechen zum Backes unterwegs waren. Einmal habe sie gefragt, ob nicht ein Händchen Mehl für sie zum Kuchenbacken übrig sei. Die schroffe Antwort: „Wir haben selber nicht genug.“

Durch einen glücklichen Umstand erhielt sie 1949 in Dillenburg eine Stelle als Hausmädchen bei Charlotte Ax. Die Ehefrau des Unternehmers, dem die Firma Kinax gehörte, war mit ihrer Laura so zufrieden, dass die bereits ein Jahr später zur Bürogehilfin in der Firma avancierte. Die Großzügigkeit ihrer Chefin war für die junge Frau richtungsweisend für ihr ganzes Leben. Charlotte Ax, die gebürtige Berlinerin, bezahlte ihr einen Steno-und Schreibmaschinenkurs. Der habe damals so viel gekostet wie sie im Monat verdiente. Laura kletterte weiter die Treppe im Unternehmen Ax hinauf und wurde Buchhalterin. Leider ging der Betrieb 1986 in Konkurs und sie stand erst einmal auf der Straße.

Mittlerweile lernte sie ihren späteren Ehemann Artur Gebauer in Eibach kennen. Er war ebenfalls Heimatvertriebener und stammte aus Ottmachau in Schlesien. Sie verliebten sich ineinander und beschlossen zusammen zu ziehen. Eine Wohnung zu finden war damals schier aussichtslos. Ihre Familie musste in dieser Zeit auch noch ihr Zimmer in der alten Schule verlassen, da der neue Schullehrer mehr Platz haben wollte, um seine Schwiegermutter darin unterzubringen. Das war seine Bedingung, sonst hätte er in Eibach nicht unterrichtet.   

Das Paar beschloss ein Haus für sich und die Familie zu bauen. Da sie bei der Finanzierung des Baus große Schwierigkeiten hatten, weil sie noch nicht verheiratet waren, beschlossen sie am 23. Februar 1957 den Bund der Ehe einzugehen. Zur Hochzeit wünschte sich das Paar als Geschenk von den Arbeitskollegen ihres Mannes einfach nur Zement für den Hausbau. Er verdiente damals als Fahrer im Monat 130 und sie 40 DM. Ihre Chefin Charlotte Ax schenkte ihr zwei Kissen und zwei Decken als Aussteuer.

Die Strickleidenschaft ist Laura Gebauer geblieben.

Den Bauplatz erhielten sie von der Gemeinde Eibach und durfte ihn später bezahlen. Mit dem Bau fingen beide 1955 an. Mit Keilhacken und Schaufeln. Maschinen konnten sie sich nicht leisten. Wochentags arbeitete das Ehepaar bis zum dunkelwerden auf der Baustelle und an den Wochenenden half auch manchmal die Verwandtschaft. Artur Gebauer musste dringend mehr verdienen und verdingte sich als Fernfahrer. Die Konsequenz daraus: Er war die ganze Woche unterwegs und so konnte das Paar nur noch sonntags am Bau ihres Hauses weitermachen.

Das fanden die alteingesessenen Eibacher aber gar nicht gut. Sie beschimpften das fleißige Ehepaar als „Sabbatschänder“ und das habe sehr wehgetan. 1957 ist die Familie in ihr bis dahin erst halbfertiges Haus eingezogen. Es fehlten Heizung, Haustüre und Garage und vieles mehr. Wir konnten nur so weitermachen, wie wir in der Lage waren es zu bezahlen. 1965 kam Töchterchen Sonja zu Welt und sie konnte mit Hilfe ihrer Mutter weiterarbeiten, um der vielen Schulden Herr zu werden. Mit viel Fleiß und noch größerer Sparsamkeit ist es ihnen auch gelungen.

Nach ihrem Ausscheiden aus der Firma Ax bekam Laura große gesundheitliche Probleme und konnte praktisch über Nacht nicht mehr laufen. Zahlreiche Untersuchungen, Krankenhausaufenthalte und sogar eine Beinoperation brachten kein Ergebnis. Lange musste sie mit Gehilfen laufen und das erschwerte die Arbeitssuche erheblich. Durch eine ABM-Maßnahme kam sie 1987 zur Gemeinde Sinn. Sie fand eine Anstellung in der Verwaltung der Gemeinde und arbeitete in verschiedenen Abteilungen bis zum Eintritt in die Rente 1992. Gleichzeitig lernte sie auch wieder das Laufen ohne Stock. Das führte sie nicht zuletzt auf das gute Arbeitsklima zurück und auf die Menschlichkeit und Güte, die ihr Arbeitskolleginnen und Kollegen entgegenbrachten. Ihr habe kein Arzt und keine Klinik helfen können, aber durch die Arbeit und die guten Menschen im Sinner Rathaus sei sie wieder gesund geworden. Seit dem Tod ihres geliebten Mannes Artur am 9. Juli 2016 lebt sie alleine in ihrem Haus und versorgt sich weitgehend selber.

Wenn es eng wird sind Tochter Sonja und Schiegersohn Stefan Schwab sofort zur Stelle und helfen immer wenn etwas zu schwer für sie ist. Fotos: Gerdau   

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