„Einzelhaft“ trotz guter Führung

Von Siegfried Gerdau

Die Covid-19-Pandemie hat nach einer kurzen Sommerpause unser Land wieder fest im Griff. Die Zahlen der positiv getesteten Menschen steigen unaufhörlich. Sehr viele Infizierte sind erkrankt und die Ansteckungsgefahr für die noch Gesunden ist allgegenwärtig. Wenn auch mittlerweile jüngere Menschen von dem Virus befallen sind und werden, ist die Altersgruppe der über 70-Jährigen besonders gefährdet. Deren Immunsystem setzt in der Regel einem Angriff der unsichtbaren Killer-Viren nur wenig entgegen.

Die Konsequenz: Die Altenheime müssen dicht machen und hoffen, dass das Virus nicht hereinmarschiert. Tut es aber trotzdem. Man müsste das Pflegepersonal genauso wie die „Alten“ kasernieren. Ein Szenario, über das man nicht einmal nachdenken möchte.

Die alten Menschen, die ohnehin ihre letzten Jahre nicht so verbringen können, wie sie es sich einst vielleicht vorstellten, sind mittlerweile völlig von der Welt abgeschnitten. Als wir heute unsere Mutter besuchten, fiel mir sofort der Vergleich mit einem amerikanischen Gefängnis ein. Wer dort nicht spurt kommt vier Wochen in Einzelhaft. Ob das in Deutschland auch so ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Der Unterschied zu unseren Altenheimen in dieser Pandemie-Zeit: Hier gibt es keine zeitliche Begrenzung für die „Einzelhaft“.

So standen wir wieder einmal zwei Etagen tiefer draußen vorm Zaun und versuchten gegen den Verkehrslärm mit Oma zu kommunizieren. Sie hatte Tränen in den Augen. Das konnte man trotz der Entfernung sehen.

Klar, wir müssen alle Opfer bringen und gewaltige Einschränkungen hinnehmen. Bei ihr und vielen anderen Heimbewohnern kommt aber noch etwas hinzu. Sie versteht es nicht mehr und vereinsamt noch viel stärker als ohnehin.

Konzertveranstalter, Künstler, Gastronomen und viele andere gehen auf die Straße und protestieren gegen die Auflagen, die ihr Geschäft bis ins Mark schädigen. Andere protestieren, weil sie Masken zum Schutz ihrer Mitmenschen tragen müssen. Die Alten können sich nicht artikulieren geschweige denn wehren. In vielen Ansprachen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass man die älteren Menschen in der Bevölkerung nicht vergessen dürfe.

Leider sind sie von den „Freigängern“ da draußen vergessen. Da helfen auch keine monotonen Beschwörungsformeln oder inhaltslose Appelle bei entsprechenden Anlässen.

Natürlich möchten die Altenheimbetreiber nicht, dass ihren Bewohnern etwas zustößt. Noch weniger wollen sie ihre Klientel verlieren. Dennoch muss es einen anderen Weg geben, als diese Menschen hermetisch zu isolieren.

Ein Gang mit dem Rollstuhl durch die Stadt, natürlich unter peinlichster Beachtung aller Hygienevorschriften, wäre in diesen Zeiten für Senioren beiderlei Geschlechts der Himmel auf Erden. Wenn man die Angehörigen genaustens einweist und die Gefahren einer Missachtung sehr deutlich macht, sollte dies möglich sein.

Das könnte so funktionieren: Das Pflege-Personal bringt die Bewohner im Rollstuhl bis zur Pforte. Natürlich sind sie alle mit Maske und Gummihandschuhen ausgestattet. Dort werden sie von ihren Angehörigen ebenfalls mit Maske und Handschuhen empfangen. Während des Spazierganges keinerlei Kontakte mit anderen Menschen und den nötigen Abstand einhalten. Nach Rückkehr werden der Rollstuhl und vielleicht die Schuhe des Bewohners desinfiziert. Dann geht es wieder mit einem glücklichen Menschen auf Zimmer.

Das alles ist ein wenig aufwändiger, als wenn man die Leutchen in ihren Zimmern lässt. Aber sind uns die „Alten“ das nicht Wert? Sie hätten uns in ihren besten Jahren sicher nicht hängen lassen und haben dies auch bestimmt nie getan.

Also auf geht’s. Wir müssen nachdenken und das sehr bald mit einem positiven Ergebnis für unsere Angehörigen, damit sie den Rest ihres Lebens nicht in „Einzelhaft“ ganz ohne „Hafterleichterung“ verbringen müssen. Foto: Gerdau