Von Siegfried Gerdau
Der ziemlich ausgeleierte Spruch „Alles hat seine Zeit“, behält seine Gültigkeit, ob man will oder nicht. Mit dem Vergehen der Jahre, ändern sich Rahmenbedingungen, aber auch manchmal die eigene Weltanschauung. Auch die Bereitschaft, Dinge einfach hinzunehmen, nimmt ab. Die Menschen, denen man zuhört und die man respektiert werden weniger. Der Blick ist vielleicht ein wenig trüber, aber die kognitive Fähigkeit, Geschwafel von belastbaren Aussagen zu unterscheiden, wird schärfer. Zum bedingungslosen Ja-Sager erzogen, stellt das Individuum auf einmal fest, dass es auch Nein sagen kann. Nein zu alldem „was schon immer so war und gemacht wurde“, Nein zu Meinungen, die scheinbar alle vertreten. Nein zu Postulaten von Koryphäen, die für sich in Anspruch nehmen, die einzige Wahrheit und Wissen zu vertreten.
Leidenschaften flachen ab, werden nicht mehr ganz so wichtig. Was einst unumstößlich erschien, funktioniert plötzlich auch anders.
Alles hat seine Zeit und wer das nicht akzeptieren kann, bleibt übrig. Die Welt dreht sich weiter und wer auch nur ansatzweise glaubt es ginge nicht ohne ihn, sieht sich auf einmal getäuscht. Man hatte seine Zeit, nutzte sie oder auch nicht. Wiederholen geht nicht. „Wenn ich nochmal….dann würde ich…ist inhaltsloses Philosophieren. Wer am Ende nichts, das Falsche gemacht hat oder auch nur so denkt, macht jetzt nichts mehr. Es ist vorbei, denn alles hat seine Zeit.
Auch Systeme haben ihre Zeit. Man neigt dazu alles was war, besser zu finden. Die Sommer waren wärmer, die Winter kälter, die Menschen weniger schlecht und die Jugend höflicher. Die Politiker weniger auf den eigenen Vorteil bedacht und die Kirchen barmherziger. Die Menschen halfen sich und hielten besser zusammen-außer wenn sie sich in Kriegen die Köpfe einschlugen.
Aber: Selbst Kriege und Seuchen haben ihre Zeit. Während die Wissenschaft glaubt Viren und Bakterien im Griff zu haben, zeigen die ihnen immer wieder wie falsch sie liegen.
Krieg hingegen will kein Mensch. Besonders nicht, wenn er „schrecklich“ war. Wenn dann Zeit vergangen ist, scheint erstaunlicherweise eine Art Sehnsucht danach zu erwachen. Wohlwollend oder noch schlimmer gleichgültig, hört die Masse dem Säbelrasseln der Mächtigen zu und kann sich durchaus vorstellen, ehrenwerten Rüstungslobbyisten und Kriegsministern zu glauben, es sei alles richtig und ihnen in den Krieg zu folgen.
Säbel zu Pflugscharen will niemand mehr schmieden und zu Ostern sitzt auch kaum noch jemand vor einem Kasernentor. Alles hat seine Zeit und wenn der andere nicht ein Freund sein will, schlägt man ihm eben (verbal oder tatsächlich) den Schädel ein.
Ein wenig Risiko ist fürs eigene Dasein immer im Spiel. Aber, dass wissen Menschen eigentlich sehr genau. Nur damit umzugehen, haben sie nie gelernt.
Alles hat seine Zeit und auch ich habe gerade wieder festgestellt, wie aktuell dieser scheinbar zum geflügelten Wort verkommene Spruch tatsächlich ist.
Lieber Siggi,
der ‚ausgeleierte Spruch‘ ist in Wirklichkeit ein sehr wahres und kluges Bibelzitat. Ich kopier es dir mal hier rein. Und es endet -Überraschung- mit FRIEDEN!
Alles hat seine Zeit1 Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: 2 Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; 3 töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; 4 weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; 5 Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; 6 suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; 7 zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; 8 lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. Die Bibel, Prediger 3, 1-8