Eine befreundete Herborner Familie türkischer Abstammung fand beim Um-und Ausbau ihres Anwesens eine Ausgabe der Nassauischen Neuen Zeitung Dill Post vom Samstag, den 31. Juli 1954.
Sie dachte, dass die mich interessieren würde. Damit lagen sie goldrichtig. In der Ausgabe fand ich einen Artikel des damaligen Präsidenten des Deutschen Bundestages D. Dr. Hermann Ehlers. Dieser erschien mir so vergleichbar aktuell, dass ich ihn hier wiedergeben möchte. Ich habe in den Ehlerschen Zeilen Parallelen zur heutigen Zeit erkannt, die mich tief berühren. sig
„Der Beginn der Katastrophe“
Von Dr. Hermann Ehlers
„Ich versuche mir vorzustellen, wie mir zumute war, als um die Wende des Monats Juli zum August 1914 die Gefahr des drohenden Kriegsausbruchs immer größer wurde. Es waren die Eindrücke eines zehnjährigen Schülers, der natürlich noch kein Bild von der Welt hatte, der in Berlin bei den Frühjahrs-und Herbstparaden und bei Begegnungen mit Soldaten im Lande den ganzen Glanz und die Macht des kaiserlichen Deutschlands kennengelernt hatte.
Das alles verband sich mit einer unheimlichen Erregung der Menschen, mit der Furcht vor Spionen, der Absperrung von Straßen und Durchsuchung von Autos, dem versehentlichen losgegangenen Schuss aus einem Infanteriegewehr und manchen anderen Dingen.
Aber niemand wusste, wie ein Krieg wirklich aussehen würde. Dazu lag der letzte zu weit zurück und niemand hatte eine Vorstellung, welche Kriegsmittel eingesetzt werden würden und wie lange ein solcher Krieg dauern könne.
Das alles schlug sich nieder in der oft genug leichtfertigen Begeisterung, in den Inschriften an Wagen, in denen Soldaten transportiert wurden und auch in Liedern und Sprüchen, mit denen man das Ganze bagatellisierte.
Wenn man heute, nach alldem, was in diesen vier Jahren geschehen ist, zurückdenkt, vermag man sich kaum mehr vorzustellen, dass man in einen Krieg mit diesen bis heute noch nicht abgeschlossenen Folgen so leichtfertig hineingehen konnte- diejenigen, die die politische Verantwortung trugen in allen Völkern und diejenigen, die als Volk in diesen Krieg hineingeworfen wurden.
Wir haben uns daran gewöhnt, die Zeit vor 1914 als den Höhepunkt des bürgerlichen Zeitalters etwas mitleidig zu betrachten. Sicher ist es dem deutschen Volk und anderen nicht anders gegangen, als es Völkern zu gehen pflegt, die sich außerhalb einer Bedrohung wähnen. Die sich in der Macht ihres Staates gesichert fühlen und die einen ständigen Aufschwung des wirtschaftlichen Lebens mitmachen.
Mit etwas anderen Maßstäben haben wir das in den vergangenen Jahren ja auch wieder kennengelernt. Es sollte aber niemand vergessen, dass diese Zeit auch eine andere Seite gehabt hat. Es war die am längsten dauernde und gesichertste Friedenszeit, die aus einem System politischen Gleichgewichts, das mit Klugheit von Bismark geschaffen war, die Möglichkeiten zur friedlichen Entwicklung der Völker entnehmen konnte.
Es war aber auch eine Zeit, in der neben der heute so viel zitierten satten Behäbigkeit innere Kräfte lebendig waren, die vielleicht stärker als die Sattheit das Zeitalter bestimmt haben und noch heute fortwirken.
Alles was es an Jugendbewegung in Deutschland gibt, ist auch in dieser Zeit gewachsen. Der große Aufbruch der freien Jugendbewegung, der Wandervogel, entstand um die Jahrhundertwende vom Steglitzer Gymnasium aus, gerade in dem Teil Berlins, der am typischsten das Bürgertum dieser Stadt verkörperte. Die Familien dieses Bürgertums brachten die jungen Menschen hervor, die in einer völlig neuen Weise der Natur begegneten. Die ihr Leben in Freiheit und Selbstbestimmung gestalten wollten und nicht nur einem romantischen Idealismus anhingen, sondern sich ihrer Gesamtverantwortung vor dem Leben und dem Volk bewusst waren.
Wenige Monate vor dem Ausbruch des Krieges war die bewegende Feier der Freideutschen Jugend auf dem Hohen Meißner gewesen. Der war seitdem zum heimlichen Mittelpunkt der Deutschen Jugend geworden. Am bewegendsten ist dabei, dass die meisten der beteiligten jungen Menschen wenige Jahre später ihr Leben auf den Schlachtfeldern im Westen und Osten hingeben mussten.
Es ist Unrecht, die Zeit vor 1914 nur zu schelten. Wir sollten ihre großen bewegenden Kräfte ernst nehmen, gerade weil wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, wie die Ausläufer dieser Kräfte zum Instrument einer falschen Herrschaft in unserem Volk gemacht wurden. Der 31. Juli 1914 war der letzte Tag eines friedlichen Zeitalters in Europa. Als am nächsten Tag unter Trommelschlag Unter den Linden bekanntgegeben wurde, der Kaiser und König habe die Mobilmachung des Heeres und der Marine befohlen (der 1. Mobilmachungstag sei der 2. August), begann die Zeit, die wir durchleben und durchleiden mussten.
Wir haben es verlernt solche Ereignisse isoliert zu sehen. Sie stehen für einen einzelnen Menschen und die Gesamtheit der Völker in einem tiefen Sinnzusammenhang. Sie zeigen uns etwas davon, dass Geschichte nicht ein zufälliger Ablauf von Dingen, sondern das Handeln einer über dieser Erde stehenden Kraft ist. Wenn wir es aus diesen vier Jahrzehnten der Katastrophe gelernt haben, dass Menschen nicht die Geschichte aus eigener Autonomie machen, sondern dass sie alle, die aufbauenden und die zerstörenden, in irgendeinem Sinne Gottes Werkzeuge sind, haben wir aus diesen Jahren Entscheidendes gelernt. Nur dann sind wir imstande, für unser gegenwärtiges Handeln das rechte Maß, aber auch die rechten inneren Antriebe zu gewinnen.“