Was bedeutet die komplette Abschaltung herkömmlicher Kraftwerke

Um die Diskussion um die Klimaerneuerung und ihre politischen Absichten besser zu verstehen, möchte ich einen weiteren Beitrag aus „unverdächtiger“, unpolitischer Quelle hinzufügen. Mir ist durchaus bewusst, dass ich meinen Lesern schwere Kost serviere. Im Grunde weist Professor Kobe in sehr diplomatischer Form auf die Tatsache hin, dass die Ziele des Klimaschutzes nicht bis zum Ende durchdacht sind und entscheidende Faktoren einfach nicht angesprochen werden. Da er seine Thesen eingegrenzt und auf das Bundesland Sachsen fokussiert hat, könnte man auf den Gedanken kommen, dass dies für das restliche Bundesgebiet nicht relevant sei. Ich warne vor diesem Trugschluss.

Prof.em.Dr.rer.nat.habil. Sigismund Kobe schrieb mir gestern folgendes:

Hallo Herr Gerdau,

ein Kollege wies mich auf Ihre Seite hin, der ein „REVIVAL“ unseres Beitrags von Anfang 2020 enthält.

Herzlichen Dank.

Ich hänge ein Positionspapier an.

Beste Grüße aus Dresden

Sigismund Kobe

POSITIONSPAPIER

Zum aktuellen Stand der Energiewende in Sachsen:

Herausforderungen und Probleme

Mit dem Kohleausstieg steht Sachsen vor Herausforderungen in einer bisher nicht bekannten
Größenordnung von Veränderungen in strukturellen, ökonomischen und sozialen Dimensionen.
Der Wegfall von gesicherter Erzeugerleistung der Braunkohle-Kraftwerke soll perspektivisch durch
erneuerbare Energiequellen – vorrangig Windturbinen und Photovoltaik-Anlagen – kompensiert
werden.
Bei der Stromerzeugung werden in Deutschland jahreskumuliert bereits 46 Prozent der
Elektroenergie durch erneuerbare Quellen bereitgestellt (Sachsen: ca. 30 Prozent). Auf politischer
Ebene wird davon ausgegangen, dass sich dieser Anteil in historisch kurzer Zeit auf 100 Prozent
erhöhen lässt. Darüber hinaus wird Energie für Verkehr und Wärme benötigt. Die Energiemenge für
diese beiden Bereiche zusammen ist noch einmal um den um den Faktor 4 bis 5 größer als die für
Elektroenergie (Strom) allein und wird bis heute vorwiegend durch fossile Energiequellen erbracht.
In Zukunft soll zusätzlich auch dieser Bedarf vorrangig durch Windturbinen und Photovoltaik-Anlagen gedeckt werden. Es wird davon ausgegangen, dass dies der einzige Weg sei, das Ziel der
Klimaneutralität im Energiesektor zu erreichen.
Die Fragen der technologischen Umsetzung dieser Transformation des Energiesystems wurden
bisher weder qualitativ noch quantitativ analysiert. Stattdessen wird erwartet, dass derzeit noch
bestehende Probleme durch technologischen Fortschritt, z.B. durch eine Wasserstoff-Strategie,
gelöst werden können.
Elektroenergie wird durch Stromnetze übertragen. Ein fundamentales physikalisches Gesetz, der
Knotensatz der Elektrotechnik, erfordert einen sekundengenauen Ausgleich zwischen Einspeisung
und Verbrauch. Wird diese Balance nach der einen oder anderen Seite verletzt und kann nicht
rechtzeitig gegengesteuert werden, droht innerhalb von wenigen Minuten ein Zusammenbruch des
Stromsystems (blackout). Seit Beginn dieses Jahres gab es bereits drei Ereignisse im europäischen
Verbundnetz, die zur automatischen Abtrennung von Teilnetzen geführt haben. Damit verbundene
teilweise erhebliche Abweichungen von der Normfrequenz 50 Hz stellen eine Gefahr für die
Versorgungssicherheit dar.
Überschreitet der Anteil der Erneuerbaren am Strommix wegen des hohen Beitrags von Wind- und
Sonnenstrom im Jahresmittel die 50-Prozent-Marke, werden zunehmend neue Großspeicher für
Elektroenergie benötigt. Die Pumpspeicherwerke (PSW) in Deutschland mit einer Spitzenleistung
von 9000 MW im Zusammenspiel mit dem Kompensationsvermögen konventioneller Kraftwerke
reichen dann zu bestimmten Zeiten nicht mehr aus, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Quantitative Analyse: Die Einspeiseleistung aller Windturbinen in Sachsen schwankt zeitlich
zwischen Null und ca. 800 MW. Die jahresgemittelte Einspeiseleistung beträgt etwa 250 MW. Das
entspricht der Hälfte der Spitzenleistung des kleinsten der vier Blöcke des Kraftwerkes Boxberg
(Abschaltung dieses Blockes: 2029). Das Kraftwerk Boxberg mit einer Spitzenleistung von 2400
MW (2021) kann bei hohem Angebot von Windstrom flexibel mit einer Absenkung der Leistung um
bis zu 1800 MW reagieren und auch im umgekehrten Fall des Mangels für Ausgleich sorgen. Nach
dem Kohleausstieg entfällt diese Option. Perspektivisch muss der Ausgleich volatiler Einspeisung
durch erneuerbare Energiequellen zum überwiegenden Anteil über Speicher realisiert werden.
Alternativen: Unter dem Stichwort „smart grid“ wird gelegentlich auf die Möglichkeit verwiesen,
den Verbrauch flexibel an die volatile Erzeugung anzupassen. Allerdings sind bisher keine
Konzepte bekannt, die dies in dem geforderten Leistungsbereich von einigen 100 MW realisieren
können. Die derzeit schon gängige Praxis, bei Energiemangel Großverbraucher (z.B. Aluminium-Werke) abzuschalten und diese für die entstehenden Verluste zu entschädigen, ist auf Dauer keine
Lösung. Auch Import (bei Dunkelflaute) und Export (bei Überproduktion) sind perspektivisch keine
Optionen, da die Kapazitäten unserer Nachbarn in beiden Richtungen auch unter dem Aspekt eines
europäischen „Green Deal“ begrenzt sind. Die Errichtung von Gaskraftwerken wäre denkbar,
verstößt aber gegen die Forderung nach Klimaneutralität. Längerfristig könnte die chemische
Speicherung von Energie über Elektrolyse Entspannung bringen. Gegenwärtig orientieren sich die
meisten Projekte dazu jedoch auf die Verwendung von Strom aus dem Netz, benutzen also den dort
vorhandenen Strommix. Dieser enthält im Mittel einen nicht zu vernachlässigenden Anteil von
Strom aus konventioneller Erzeugung. Das eigentliche Problem, „grünen Wasserstoff“ direkt aus
erneuerbaren Energiequellen bereitzustellen, ist noch nicht gelöst. Im kleinen Maßstab widmen sich
Reallabore wie in Bad Lauchstädt (Ziel: 30 MW als installierte Leistung des Windparks im Jahr
2026) und Schwarze Pumpe (Ziel: 10 MW im Jahr 2024) dieser Aufgabenstellung. Für die
Realisierung der oben angegeben Ziele ist allerdings das Hundert- bis Tausend-fache dieser Leistung
erforderlich. Batteriespeicher sind keine Großspeicher.
Schlussfolgerung:
Ein weiterer Zubau von Windenergie- und PV-Anlagen (insbesondere als Freiflächen-Anlagen) ist
an das Vorhandensein von Speichern mit einer dem geplanten Zubau adäquaten Speicherkapazität
gebunden und hat die Existenz derselben als Vorbedingung.
Sofortmaßnahmen:
Für Sachsen ist die Ertüchtigung des PSW Niederwartha mit hoher Flexibilität und einer
Spitzenleistung bis zu 120 MW unverzichtbar. Damit stünde etwa die Hälfte der jährlichen
mittleren Einspeiseleistung aller Windturbinen in Sachsen zumindest zur Abdeckung der
Bedarfsspitzen als Speicherreserve zur Verfügung. Weiterhin kann – falls notwendig –
Regelenergie zur Stabilisierung der Netzfrequenz bei Abweichungen bis zu 10 mHz von der
Norm 50 Hz bereitgestellt werden.
Alleinstellungsmerkmal von PSW: Sie erfüllen eine der wichtigsten Anforderungen an ein
modernen Stromsystems bei einem hohem Anteil volatiler Erzeuger, nämlich die Möglichkeit der
schnellen Zuschaltung von Lasten. Und sie sind Schwarzstart-fähig. Aktuelle Ereignisse erinnern
daran, dass dem Management im Katastrophenfall höchste Priorität zukommen muss.

Prof.em.Dr.rer.nat.habil. Sigismund Kobe, TU Dresden, 29. September 2021

Sigismund Kobe. Foto: privat

Sigismund Kobe

1940                  geboren in Zella-Mehlis

1959-1965        Studium Kernphysik und Physik (TH/TU Dresden)

1965-1992        Assistent, Lehrer im Hochschuldienst und Oberassistent                              (Sektion Physik, TU Dresden)

1971                  Dr. rer. nat. (TU Dresden)

1988                  Dr. sc. nat. (TU Dresden)

1991                  Dr. rer. nat. habil. (TU Dresden)

1992                  Professor für Theorie ungeordneter Festkörper am Institut für                                            Theoretische Physik, TU Dresden

2006                  Emeritierung

Tu Dresden

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