Er ist nie so ganz verschwunden und jetzt wieder in voller Größe da. Der Deutsche Größenwahn. Er hat das Kaiserreich platt gemacht und das sogenannte III. Reich sowieso. Wilhelm der II. griff den Satz: „Am Deutschen Wesen soll die Welt genesen“ auf und machte ihn salonfähig. Er rüstete auf und machte das Deutsche Heer sowie die Marine kriegstüchtig. Die Welt sollte sehen zu was die Deutschen in der Lage waren. Der gewonnene Deutsch-Französischen Krieg 1870-71 bestärkte ihn in der Annahme, dass dem Deutsche Volk die Führungsrolle in der Welt zustünde. Die Entente-Mächte Frankreich, Großbritannien und Russland beobachteten das Treiben mit sehr viel Misstrauen und die uneingeschränkte Aufrüstung der Deutschen Kriegsmarine ließ sie Böses erahnen. Das Schlimme daran: Wilhelm II. von Geburt an behindert, versuchte sein vermeintliches Manko mit Säbelrasseln und strammen Auftreten wettzumachen.
Mit Pauken und Trompeten
Das Volk war begeistert und noch bis 1914 ging es den Bürgern gut. Als das österreichische Thronfolgerpaar in Sarajewo ermordet wurde, kam es zu einer Kettenreaktion und Deutschland zog mit Pauken und Trompeten in den Krieg. Die Menschen in Deutschland waren davon mit Masse überzeugt, dass Deutschland seine Bündnistreue gegenüber Österreich-Ungarn unter Beweis stellen müsste. Die Kriegserklärung gegenüber Russland erfolgte am 1. August 1914 und 4 Tage später an Frankreich. Obwohl das deutsche Kaiserreich eigentlich nur mittelbar an den Geschehnissen beteiligt war, gelang es den Herrschenden das Volk davon zu überzeugen, dass der Krieg notwendig und eine Ehre sei.
Vier Jahre und 20 Millionen Kriegstote später lag die Armee und mit ihr ganz Deutschland am Boden. Die gesamte Welt war mit 25 Ländern am I. Weltkrieg beteiligt und rund 1,4 Milliarden Menschen waren nicht am Deutschen Wesen genesen.

Am 30. Januar 1933 trat der nächste Größenwahnsinnige auf den Plan, baute die zerschlagene Militärmacht wieder auf und machte sie kriegstüchtig. Neben Massenmorden am jüdischen Volk kamen auch tausende Volksgenossen in Konzentrationslagern um, weil sie sich nicht gleichschalten ließen. Parteien wurden verboten oder mundtot gemacht. Der Großteil des Volkes zeigte sich begeistert, die „Schmach“ der Niederlage von 1918 wieder gut zu machen. Aus den schrecklichen Kriegsjahren hatte nicht nur die Führung nichts gelernt. 1939 griff Hitler Frankreich an und war kurz davor auch die englische Armee vernichtend zu schlagen. Dann war Russland dran, obwohl Hitler erst kurz vorher mit Stalin einen Nichtangriffspakt besiegelt hatte.
Gewinner war der Tod
Anfangs lief alles wie geschmiert und erst der russische Winter setzte dem Ganzen ein Stoppsignal. Der Winter 1942/43 stoppte schließlich den Größenwahn in Stalingrad und die 6. Armee unter Generalfeldmarstall Paulus wurde vernichtet. Die Schlacht war nicht nur verloren, sondern setzte auch psychologisch einen Wendepunkt. Von einstmals über 500 000 tausend in Stalingrad eingesetzten Wehrmachtssoldaten kamen Jahre später kaum mehr als 10 000 nach Hause. Als der Weltkrieg 1945 für Deutschland verloren war, hatte Deutschland 8 Millionen Tote zu beklagen. Russland verzeichnete mit 10 Millionen Soldaten und 24 Millionen zivilen Toten die höchste Kriegsopferzahl.
Und wieder war die Welt am Deutschen Wesen nicht genesen. Als sich Nachkriegsdeutschland mit amerikanischer Hilfe so langsam erholte, schielten nicht wenige wieder nach Waffen. Sie hatten wieder nichts gelernt und obwohl der erste Deutsche Nachkriegs-Bundeskanzler Konrad Adenauer betonte, „dass jedem Bürger die Hand abfallen sollte, wenn er wieder ein Gewehr in die Hand nähme“, wurde Deutschland wieder wehrfähig gemacht.
Der Kalte Krieg der Blöcke Sowjetunion gegen die westliche Nato, entbrannte schon bald mit voller Wucht. Der Unterschied zum I. und II. Weltkrieg: Es waren mittlerweile nukleare Massenvernichtungswaffen im Spiel. Deren Vernichtungskraft hatten die USA in Japan unter Beweis gestellt und die mittlerweile große Menge an Bomben und Rakete auf beiden Seiten bildeten ein weitgehend abstraktes Patt.
Der Größenwahn kam wieder zum Vorschein
Deutschland war zwar der Juniorpartner im Nato-System und der Deutsche Größenwahn noch nicht erkennbar. Das änderte sich schlagartig mit dem russischen Überfall auf ihr einstiges Partnerland Ukraine. Verbal hatte Deutschland dazu viel zu sagen. Die Kriegstüchtigkeit war dem Land in den vergangenen Jahrzehnten jedoch abhandengekommen. Die neue Regierung von Rot und Grün, deren Angehörige über viele Jahre die Friedensbewegung anführten, hatten ihre Meinung von Frieden auf Krieg gewechselt. Der Größenwahn kam wieder um die Ecke und der übermächtige Wunsch am Deutschen Wesen die Welt genesen zu lassen, wird wieder aktueller denn je. Die Deutsche Rüstungsindustrie vernahm es mit Freude und begann Panzer und Kanonen zu bauen. Den Menschen im Lande macht man klar, dass Russland nicht in der Ukraine Halt machen wird und Deutschland spätestens 2028 mit einem Überfall zu rechnen habe.
Die Gefahr, dass in einem künftigen Krieg mit Atomwaffen gefochten werde, ist für die Kriegsbefürworter kein Thema und wird mit Vehemenz in Abrede gestellt. Doch die im vergangenen Jahr (2024) geänderte russische Militärdoktrin hat offensichtlich noch niemand so richtig auf dem Schirm.
Russische Militärdoktrin
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Russland passt seine Doktrin zum Einsatz von Nuklearwaffen nach Worten von Kremlchef Wladimir Putin der gespannten internationalen Lage an. Moskaus Liste militärischer Bedrohungen, gegen die Atomwaffen zur Abschreckung verwendet werden könnten, sei erweitert worden, sagt Putin bei einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats im Kreml. Mit der neuen Version der Doktrin erhöht sich insbesondere für westliche Atommächte die Gefahr, Ziel eines russischen Gegenschlags zu werden, sollten sie Kiew bei einer Aggression gegen Russland unterstützen. „Es wird vorgeschlagen, dass eine Aggression gegen Russland durch einen nicht-nuklearen Staat, aber mit der Beteiligung oder Unterstützung eines nuklearen Staates, als gemeinsamer Angriff gegen die Russische Föderation betrachtet wird“, ergänzt Putin. Russland behalte sich das Recht vor, Atomwaffen einzusetzen, wenn es oder sein Verbündeter Belarus angegriffen würden – auch mit konventionellen Waffen, sagt Putin.
Angesichts dieser Aussage müsste sich doch die Überlegung Bahn verschaffen, dass man es doch besser mit professioneller Diplomatie versuchen sollte. CO2-Reduzierung und Kampf gegen den Klimawandel oder nachhaltige Energieerzeugung könnte im Kriegsfall zu einer Farce werden. Ein Atomkrieg, auch wenn er auf kleinster Flamme geführt würde, setzt allem ein Ende. Wenn Diplomaten miteinander reden oder es zumindest versuchen, könnte am Deutschen Wesen vielleicht die Welt doch genesen. sig/Foto: Gerdau