Schade, dass viele Politiker gleich welcher Couleur, erst nach ihrem Ausscheiden aus der politischen Tretmühle Klartext reden. Sie wussten oftmals schon immer was in ihren Augen richtig oder falsch lief, nur es in ihrer aktiven Zeit laut auszusprechen, wäre, so fürchten die meisten von ihnen, einem beruflichen Selbstmord gleichgekommen. Für manche unter ihnen ist die Lebensphase des Ruhestandes die Zeit, um sich den angestauten Frust der oftmals unbewältigten eigenen Vergangenheit von der Seele zuschreiben. Jetzt ist die Gefahr ins berufliche Abseits geschoben zu werden nicht mehr akut. Es bleibt jedoch immer noch das Risiko einer gesellschaftlichen Stigmatisierung oder einfach nur des Totschweigens.
Mit beidem kann der ehemalige FDP-Generalsekretär und späterer SPD-Genosse Günter Verheugen offensichtlich ganz gut leben. Gemeinsam mit seiner einstigen Kabinettschefin Petra Erler befasst er sich in dem kürzlich erschienen Spiegel-Bestseller „Der lange Weg zum Krieg“ unter anderem mit den Hintergründen der Osterweiterung von NATO und EU und deren Auswirkungen. Als er im Februar 2023 die von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierten Petition Manifest für Frieden als einer der Ersten unterzeichnete, machte niemand davon ein großes Aufheben.
Im August 2023 wurde Verheugen deutlicher und mahnte Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland an. Ihm gehe es um die großen, überlebensbedrohlichen Krisen der Menschheit und um diese zu bewältigen, müssten alle Kräfte konzentriert werden. Dabei könne man keinen Staat ausschließen. Der Zusatz: „Auch wenn Russland zweifelsfrei der Aggressor ist, habe der Krieg eine Vorgeschichte, die aber in der „offiziellen westlichen Darstellung fehlt“. Die öffentliche Skepsis gegenüber der jetzigen Ukraine-Politik wachse und die Mehrheit auch der Deutschen wünsche, dass der Krieg so schnell wie möglich beendet werde und man in Friedensverhandlungen eintrete.
Auch diese Einlassungen des heute 80- Jährigen hatten nicht die gewünschte Reichweite. So beschloss er seine Gedanken und Überlegungen in dem genannten Buch, welches Anfang dieses Jahres im Heyne-Verlag erschien, zu manifestieren. Vorwürfe, woher er denn sein Wissen und die nötigen Informationen habe, sind für den SPD-Mann nicht relevant. Ahnungslos und ein Putin-Freund ist er sicher nicht. Verheugen war Generalsekretär der FDP und nach seinem Parteiwechsel zur SPD- Vorsitzender des Komitees für Frieden, Sicherheit und Abrüstung der Sozialistischen Internationale. Wurde Staatsminister im Auswärtigen Amt unter Joschka Fischer und blieb es bis Mitte September 1999. Er war Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik zuständige stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag und letztlich stellvertretender EU- Kommissionspräsident.
Mitglied in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist Günter Verheugen trotz seiner wenig konformen Haltung immer noch.
Das 301- Seitige Werk „Der lange Weg zum Krieg“ ist sicher keine kurzweilige Bettlektüre, aber für nachdenkliche Leser, die sich über die aktuelle politische Entwicklung Sorgen machen, unverzichtbar. Zurückgehend auf das Jahr 1945 beleuchten die Autoren sehr in die Tiefe gehend die Rollen der Siegermächte im beginnenden „Kalten Krieg“. Die wechselseitige Einflussnahme von USA und der damaligen UDSSR auf das westliche Europa, wird ebenfalls gründlich beleuchtet.
Es geht in dem Buch um Dominanzverhalten, Schuldzuweisungen und politischem Verhalten in der Frage diplomatischen Einmischens. Die Ultima Ratio haben auch Petra Erler und Günter Verheugen nicht in petto. Diesen Anspruch hat ihr Buch auch sicher nicht. Es unterstützt jedoch die eigene Vorstellungskraft und hilft bei der Einschätzung so manch unbegreiflicher Geschehnissen.
Mein Tipp: Die 24 Euro für den Bestseller sind für Menschen, die sich nicht von einseitigen Informationen abhängig machen wollen, sehr gut angelegt. Man muss Petra Erler und Günter Verheugen nicht in allen Aussagen zustimmen, aber die meisten davon sind nicht von der Hand zu weisen. sig/Repro: Gerdau