Von Christian Heun
Kapitel 1: Der erste Schrei. Eine Geburt ins Ungewisse

1.1 Das Paradox des Menschseins
Es ist ein Widerspruch, der uns begleitet, seit wir denken können: Wie kann es die Erfüllung des Menschen sein, zu lieben – und doch zu hassen? Zu leben – und zugleich zu töten? In uns koexistieren Kräfte, die gegensätzlicher kaum sein könnten. Licht und Schatten, Hingabe und Zerstörung, Hoffnung und Angst. Kein philosophisches System, keine Religion hat dieses Paradoxon je vollständig auflösen können. Vielleicht, weil es nicht auflösbar ist. Vielleicht, weil das Menschsein genau hier beginnt – im Spannungsfeld zwischen dem, was wir sein möchten, und dem, was wir zu sein gezwungen scheinen. C. Heun
1.2 Ein Schrei in die Welt
Mit einem Schrei beginnt das Leben. Ein Schrei, der nichts artikuliert – und doch alles sagt. Er ist Ausdruck des Unverstandenen, des ersten Kontakts mit einer Realität, die uns fremd ist. Wer sind wir in diesem Moment? Ein Wesen im Übergang – vom Nichtsein ins Dasein, vom Dunkel ins Licht.
Und schon beginnt sie: die Zeit. Eine begrenzte, unwiederholbare Zeit. Eingespannt in ein unendliches Universum, dessen Weite uns mit der immer gleichen, unbeantworteten Frage konfrontiert:
Was ist der Sinn meines Daseins?
Ich spüre: Da ist mehr. Doch was ist dieses „Mehr“?
1.3 Die Abwesenheit Gottes
Ich meine nicht Gott – nicht im religiösen Sinn. Ich habe ihn gesucht, in Ritualen, Dogmen, Geschichten. Doch überall fand ich nur das: Geschichten. Konstruktionen, geschaffen, um das Unerklärbare zu zähmen. Ich bezweifle nicht die Bedeutung von Glauben – wohl aber seine Herkunft. Religion ist, so scheint es mir, weniger eine Offenbarung als eine menschliche Antwort auf die Angst vor dem Nichts.
Doch das „Mehr“, das ich meine, ist kein personifizierter Gott. Es ist still. Formlos. Vielleicht Bewusstsein. Vielleicht Resonanz. Vielleicht bloß ein Gedanke, den man nie zu Ende denken kann.
1.4 Der Verlust des Ursprünglichen
Kaum können wir gehen, sollen wir stillstehen. Kaum können wir sprechen, sollen wir schweigen. Das Leben beginnt mit einem Drang nach Ausdruck – und endet oft in einem Leben der Anpassung. Was wir im Spiel finden, verlieren wir im Ernst. Die Energie der Kindheit wird gezähmt durch Regeln, Erwartungen, Normen.
Und mit jeder Anpassung entfernen wir uns ein Stück mehr von dem, was wir einst waren: frei, laut, lebendig.
Wo beginnt also die Verfremdung?
Vielleicht genau da, wo das Leben beginnt – in jenem Moment, in dem wir uns zum ersten Mal anpassen, um dazuzugehören.
1.5 Die Zeit, die rinnt
Die Zeit ist ein Fluss, der still und erbarmungslos zugleich fließt.
Eben noch der erste Kuss.
Dann das erste graue Haar.
Ein Enkelsohn, der unsere Hände hält – so wie wir einst gehalten wurden.
Und plötzlich beginnt die Vergangenheit lauter zu rufen als die Zukunft.
Was früher ewig dauerte – ein Sommer, ein Schultag, eine Wartezeit – vergeht nun im Flug. Die Jahre rinnen dahin. Und mit ihnen die Illusion, man hätte unendlich Zeit.
In dieser Beschleunigung entsteht ein Gefühl der Leere – aber auch eine neue Dringlichkeit. Jetzt zu leben. Jetzt zu fragen. Jetzt zu erinnern.
1.6 Die Rückkehr zur Frage
Was bleibt, wenn man das Leben rückwärts betrachtet?
Was bleibt, wenn man alles erreicht hat, was die Welt als Erfolg bezeichnet – und doch spürt, dass das Wesentliche immer noch ungesagt ist?
Ich kehre zurück zur Frage meines ersten Atemzugs.
Ich wiederhole sie mit dem Bewusstsein eines Erwachsenen, der die Welt gesehen hat – und sie dennoch nicht versteht:
Was ist dieses Leben?
Und warum fühlt es sich an, als gäbe es mehr – und doch ist es nirgends greifbar?
Ich weiß keine Antwort. Doch ich fühle, dass sie sich in der Tiefe verbirgt, im Schweigen zwischen den Worten, im Staunen über das Selbstverständliche
Kapitel 2: Sekunde für Sekunde – Die stille Flucht der Gegenwart
Die Zeit flieht nicht.
Sie schreit nicht.
Sie tut nichts weiter, als zu vergehen. Und dennoch hinterlässt sie überall Spuren – auf der Haut, in den Gedanken, in unseren Erinnerungen. Ihre Bewegung ist leise. Fast unsichtbar. Und doch ist sie alles, was unser Leben strukturiert, begrenzt, auflädt.
Wir leben in ihr.
Aber verstehen wir sie?
2.1 Die Zeit als Taktgeber und Zerstörerin
Jede Uhr misst dasselbe.
Aber kein Mensch erlebt Zeit gleich.
Ein Moment voller Angst zieht sich wie ein endloser Tunnel.
Ein Moment der Liebe vergeht wie ein Lidschlag.
Was sagt uns das? Dass Zeit nicht objektiv ist – nicht für uns. Sie ist mehr als nur ein Maß. Sie ist eine Empfindung. Eine Beziehung.
Und manchmal auch eine Last.
Denn sie geht – und nimmt alles mit.
Wann beginnt der Moment, in dem wir bemerken, dass uns etwas entgleitet?
Vielleicht beginnt er genau dann, wenn wir innehalten. Wenn wir zum ersten Mal wirklich verstehen, dass nichts bleibt. Dass jeder Augenblick bereits Vergangenheit ist, noch bevor wir ihn vollständig erfassen können. 2.2 Die Trägheit der Kindheit – und das rasende Jetzt
Als Kind war ein Tag ein Universum.
Die Wartezeit auf Weihnachten – eine Ewigkeit.
Der Schulvormittag – ein Gefängnis aus endlosen Minuten.
Doch heute rauschen Wochen an mir vorbei, als hätte jemand die Geschwindigkeit meines Lebens verdoppelt. Die Jahre fliegen – nicht, weil die Welt sich schneller dreht, sondern weil meine Wahrnehmung sich verändert hat.
Warum?
Ist es die Gewohnheit? Die Wiederholung?
Oder ist es die Abwesenheit von Staunen?
Kinder staunen.
Erwachsene funktionieren.
Vielleicht liegt die Wahrheit darin: Die Zeit wird nicht schneller – aber wir werden stumpfer. Weniger gegenwärtig. Mehr abwesend im Jetzt.
Und damit beginnt die stille Flucht der Gegenwart.
2.3 Was ist ein Moment wirklich?
Philosophen haben es versucht.
Physiker ebenfalls.
Und doch bleibt der „Moment“ ein Rätsel.
Wo beginnt er?
Wo endet er?
Er ist da – und schon vorbei.
Ein kurzer Aufleuchten zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Und wir – als Menschen – leben fast nie in ihm. Wir bereuen Vergangenes oder planen Zukünftiges. Aber das Jetzt? Das übersehen wir oft.
Ist das vielleicht die tiefste Tragik des Menschen – dass er fast nie da ist, wo sein Leben gerade stattfindet?
2.4 Die Gegenwart wieder spüren
Ich glaube, es gibt einen Weg zurück – zurück in das Jetzt.
Aber er ist schmal.
Er verlangt Verlangsamung. Wachheit. Den Mut, sich nicht ständig zu betäuben.
Denn die Welt ist laut. Und Geschwindigkeit gilt als Tugend. Wer langsam lebt, lebt scheinbar falsch. Wer innehält, wirkt verdächtig.
Aber genau dort, in der Stille, liegt der Moment.
Ich versuche, ihn zu finden:
Im Spiel mit meinem Enkelsohn.
Im Licht, das abends durch das Fenster fällt.
Im leisen Geräusch meines Atems, wenn alles andere schweigt.
Es sind nur Sekunden.
Aber vielleicht sind sie das eigentliche Leben.
Kapitel 3: Kindheit in der Ferne – Wenn das Licht langsam blasser wird
Es gibt Erinnerungen, die nicht laut sind.
Sie kommen nicht mit Bildern, sondern mit Gefühlen.
Eine bestimmte Lichtstimmung.
Ein Geruch.
Ein Windhauch im Gesicht – und plötzlich ist sie da, die Kindheit.
Nicht greifbar, aber spürbar.
Ein inneres Echo.
Vertraut und doch unerreichbar fern.
3.1 Das verlorene Maß der Unschuld
Kindheit war kein Zustand, sondern ein Empfinden.
Nicht durch Sicherheit definiert, sondern durch Staunen.
Wir wussten nicht viel – und mussten auch nichts wissen.
Wir lebten im Moment, weil wir nichts anderes kannten.
Und heute?
Heute suchen wir das verlorene Maß dieser Unschuld – in Meditationen, in Retreats, in der Natur.
Aber was wir suchen, ist kein Ort. Es ist eine verlorene Perspektive.
Warum geht sie verloren? Und kann sie je zurückkehren?
Vielleicht verlieren wir sie nicht freiwillig.
Vielleicht nimmt sie uns das Leben Stück für Stück.
Mit jedem „Du musst“, mit jeder Erwartung, mit jedem Schritt in eine Welt, die misst und bewertet.
3.2 Die Mechanik des Erwachsenwerdens
Erwachsenwerden heißt oft: funktionieren lernen.
Pflichten erkennen, Regeln einhalten, Erwartungen erfüllen.
Aber irgendwo auf diesem Weg verlernen wir das Spielen.
Nicht das Spielen mit Spielzeug – das Spielen mit Möglichkeiten.
Die Leichtigkeit.
Die Offenheit.
Ist das Erwachsenwerden ein unausweichlicher Verrat an der eigenen Kindheit?
Ich erinnere mich an Momente, in denen ich einfach „war“.
Nicht „jemand“. Nicht „etwas“. Nur ich – in diesem Moment.
Diese Momente werden seltener. Und kostbarer.
3.3 Die Rückkehr zur Wurzel – Eine innere Archäologie
Es gibt eine stille Bewegung in uns, die rückwärts schaut.
Nicht aus Nostalgie – sondern aus Sehnsucht.
Die Kindheit ist nicht vorbei, weil die Zeit vergangen ist.
Sie ist nur verschüttet.
Unter Arbeit, Verantwortung, Selbstbild.
Manchmal braucht es nur einen Satz eines Kindes.
Ein gemeinsames Lachen.
Oder das Geräusch eines alten Liedes – und wir graben etwas aus:
Ein Gefühl, das nicht tot ist, nur vergessen.
Vielleicht liegt in der Rückkehr zur Kindheit nicht die Flucht, sondern die Erinnerung an den ursprünglichen Impuls des Lebendigen.
Dort, wo wir zum ersten Mal staunten.
Wo Zeit keine Rolle spielte.
Wo das Leben kein Ziel hatte, sondern einfach nur war.
3.4 Die Aufgabe: Kindheit nicht zurückholen – sondern verwandeln
Ich glaube nicht, dass wir unsere Kindheit zurückholen können.
Aber wir können sie verwandeln.
Sie als inneren Maßstab nehmen, an dem wir prüfen:
Ist mein heutiges Leben noch lebendig? Oder nur organisiert?
Würde mein kindliches Ich mich erkennen – oder vor mir davonlaufen?
Diese Fragen sind unbequem.
Aber sie führen uns zurück zu einer Wahrheit, die nicht laut ist – aber echt
Widmung
Für meinen Enkel Adriano Julian Thomas,
damit er eines Tages begreift,
wie tief das Leben wirklich ist.
Und für alle,
die nicht aufhören zu fragen. Worte die mich lange begleiten haben inklusive der tiefen Gedanken des Inhaltlichen.
Über den Autor:
Christian Heun, geboren am 20. März 1975, lebt im mittelhessischen Driedorf. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit der Frage nach dem Wesen des Menschen, der Zeit und der Erinnerung. In seinem Leben als Vater, Großvater und Technologe vereint er das Konkrete mit dem Geistigen. „Schrei ins offene“ ist sein erstes philosophisches Werk. Weitere Fragmente könnten folgen.

Copyright: Christian Heun 21/06/2025
Zwischen Schmerz, Dank und Zeit
Dank ist ein leises Wort.
Kaum hörbar im Lärm des Verlustes,
fast verloren im Echo des Schmerzes,
und doch wenn es aufrichtig kommt,
trägt es mehr Wahrheit in sich
als viele laute Gesten.
Der Schmerz ist ein Besucher,
ungefragt, unerwünscht,
aber manchmal notwendig,
damit wir spüren,
wie tief wir lieben konnten
und wie endlich alles ist.
Und dann ist da die Zeit.
Nicht greifbar, nicht verhandelbar.
Sie eilt und gerade weil sie eilt,
schenkt sie jedem Moment
einen stillen Glanz,
eine Dringlichkeit,
ein Flüstern:
“Jetzt zählt.”
Wir leben
zwischen einem Dank,
der oft zu spät kommt,
und einer Zeit,
die nie zurückkehrt.
Und vielleicht besteht das Menschsein genau darin:
dem Schmerz Raum zu geben,
dem Dank eine Stimme und der Zeit einen Sinn.