Von Walter Schwahn
Die Geschichte, die damals der alte Emil Linde zum besten gab, ist wenig wahrscheinlich. Aber wir glaubten an sie, Märchen und Sagen sind ja auch nicht besser.

Da sollten vor Zeiten drei abgerissene Brüder um die Gunst des schönsten Herborner Wirtstöchterleins gewürfelt haben. Die beinernen Würfel rasselten nur so in den Lederbechern und wenn sie über die sandgescheuerte Eichenbohle des Schanktisches torkelten, hingen die gespannten Blicke der Gäste an ihnen.
Es war nämlich Sylvester und das dralle Mädchen war einundzwanzig. Es hatte mit den Kerlen ausgemacht, dass es jeden, der dreimal gleichlautende Zahlen wirft, mit einem Kuss belohnen würde. Denen aber, die mit drei Würfeln wenigstens zwei gleiche Zahlen zuwege brächten, würde sie die Backen streicheln.
Nun, die Maid hatte allerhand zu tun, mit zarten Händen über die Stoppeln der Kerle zu streicheln. Nur der Kuss ließ auf sich warten. Unter der Wirtsbank kicherten die Lachtauben, ein Dompfaff schwätzte im Käfig und im Dunste der Gaststube vor sich hin. Im gemauerten, doppelstöckigen Ofen bruzzelten Äpfel und tanzten eine Art von Apfelpolka.
Da, plötzlich stieß einer der Brüder einen brüllenden Schrei aus. „Einundzwanzig“, schrie er, „ich habe einundzwanzig geworfe! Drei Einser, hier könnter gucke! Und die gelle genausoviel wie‘s Mädche alt is! Jetzt her mit dem Kuss“.
Der alte Herr verschwieg, wie es mit dem Kuss weiter ging. Er sagte nur noch, die Herborner hätten an die lustige Begebenheit ihr eigenes Erfindungstalent geknüpft. Seitdem würde an Sylvester so gewürfelt, wie es heute noch vor sich geht. Nicht um eine Backenstreicheln und nicht um einen Kuss. Es ging in Ermangelung von schönen Wirtsmaiden um Kuchen, Wein und Wurst. Und natürlich um die Gemütlichkeit, welche die Herborner von jeher außerordentlich schätzten.

stehend Vater Karl Schwahn, rechts unten Walter Schwahn, daneben Cousine Ilse, zweiter von links Herr Philippi (späterer Pächter „Schneiders Stübchen)
Es gab keine Hektik, kein unwürdiges Menschengeschiebe und Gewoge um die Würfeltische. Das alte Jahr sollte in Würde, Frieden und Glück auslaufen. Dann ließ sich das neue Jahr mit Herborner Dickem umso fröhlicher begießen. Bleigießen war je allerorten, aber das Neujahrswürfeln, das war eine ureigene Herborner Angelegenheit.
Jahrzehnte, ja Jahrhunderte durch und das Umfeld hat es neuerdings zu Nutz und Frommen abgekuckt. In unseren gesegneten Zeiten würfelt man überall und wandelt die Zeremonie sogar ab.
„Kommt, nehmt Platz un tuts abwarte. Ich habs net gern, wenn die Bude hier vollsteht un die Stühle leer bleiwe.“ Also sprach Benders Fritz, um ein Beispiel zu nennen. Familienweise nahmen wir Platz, wir hatten unendlich viel Zeit. Von acht bis zwölf hörte man nichts als das Rollen der Würfel und das Schlurfen der hin-und hereilenden Schritten des guten Fritz.

So wie die Leute kamen, nahmen sie die freigewordenen Stühle ein. Da fiel kein böses Wort, da bohrte sich keinen Ellenbogen in den armen Rücken. Das war bei Bertese Willi so, in der „Gefohr“, bei Schuhmanns Louis, bei Ebertze, bei Teutsche Peter und Schuhmanns Otto, bei Stahle Louis und Todts Schorsch, bei Schuhmann Karl, Schmidts August und Müllers Johann; bei Lehrn Fritz, Neuendorffs August, Wissenbachs Karl, Wieths Anna und Heusers Wilhelm. Und nicht zu vergessen, „Feinbäckersch“ in der Oberstadt, das Café Magnus und die beiden feinen Hotels „Zum Ritter“ und den „Nassauer Hof“. Wer da mit Kind und Kegel sämtliche Würfellokale wenig seßhaft abgrasen wollte, der fing eben bei Metzlers Willi an und beendete seine Familientour drunten im „Lindenhof“ oder im „Herborner Hof“.
Dann war die Zeit entsprechend fortgeschritten, die Uhr ging auf zwölf los, die Oma zu Hause würfelte ein letztes Stück Speck in den warmen Kartoffelsalat.
Geschossen wurde nur auf dem Marktplatz und nicht in den Vorgärten, Dachluken und Raketenrohren, die letzteren gab es ja noch nicht. Das Zündplättchen, „der Hundestopfen“, der „Knäller“, das „Radauplätzchen“ und hin und wieder ein sprühender „Zischer“ beherrschten mit mildem Krach die mitternächtliche Szene.
Ganz verwegene Kerle wagten sich an den „Kanonenschlag“; andere stopften einen großen Hohlschlüssel mit Zündplättchen voll, hefteten ihn an einen Bindfaden mit einem Nagel am anderen Ende, steckten den Nagel in den Schlüssel und donnerten das „Geschoss“ gegen den Basaltblock an Mährlends Eck, dass es nur so dröhnte.
Derweilen aber vollzog sich die allgemeine Begrüßungs-und Versöhnungszeremonie unter der Menschenmenge. Man umarmte sich, fiel sich um den Hals, verzieh diesem und jenem und schüttelte Hände, von deren Dasein man bis zu dieser bemerkenswerten Stunde nicht die geringste Ahnung hatte.
So war es, so wird es nie wieder. Wer es erleben durfte, kann seine Vergleiche ziehen. Drei Stunden vor Mitternacht schließen heute die wenigen Würfellokale. Vielleicht gucken Benders Fritz und Metzlers Willi dem heutigen Treiben von oben zu. Dann werden sie sich anstoßen und zuraunen: „Also, Kräm sin das schon! Nur kei Herwersche!“
Der 1989 verstorbene Walter Schwahn kam 1908 in Herborn zur Welt. Seine schriftstellerische Begabung wurde bereits früh vom Herborner Schulrektor Schumann entdeckt und gefördert. Er wurde ein bekannter Artikel- und Glossenschreiber und veröffentlichte wöchentlich seine Beiträge im Herborner Tageblatt. Seine Tochter Anne und ihr Ehemann Arthur Schmidt haben mir den Abdruck seiner schönen Geschichte über den alten Herborner Brauch des Neujahrswürfeln zum Abdruck freigegeben. Unter der Rubrik „Das war die gute alte Zeit im Dillkreis“ hatte Schwahn darin diese Glosse als Folge 68 verfasst.